nur die heroischen Tugenden oder jene, welche die Würdigkeit des Men- schen erheben, geschätzt, andere aber von ihnen nicht gelehrt noch ge- sucht wurden. An die Stelle der Geduld und Unterwerfung tritt bei den Alten die Tapferkeit und die männliche, großmüthige Tugend, welche kleine Absichten und das Leben selbst verachtet. Von der christ- lichen Demuth war bei den Alten ohnedieß kein Begriff anzutreffen. Alle diese passiven Tugenden, wohin auch die Reue, z. B. der Magda- lena, gehört, sind nur in den christlichen Bildern zu suchen. Dagegen konnten auch bei den Alten die Werke der Kunst nicht dem Laster ge- weiht seyn, und nur mit großer Einschränkung waren allegorische Vor- stellungen davon möglich. Das berühmteste Beispiel davon ist ein Ge- mälde der Verleumdung von Apelles, dessen Beschreibung Lucian 1 hinterlassen hat. Apelles malte die Verleumdung, da er von einem seiner Kunstgenossen bei Ptolemäos Philostratos als Mitschuldiger einer Verrätherei fälschlich angegeben worden war. Auf seinem Gemälde saß zur Rechten eine männliche Figur mit langen Ohren und reichte der Verleumdung die Hand; um diese herum stand die Unwissenheit und der Verdacht. Von der andern Seite trat eine andere Gestalt der Verleumdung herbei, welche eine schöne Figur, aber erbost, aufgebracht war, in der rechten Hand eine brennende Fackel haltend, mit der linken einen Jüngling bei den Haaren herbeiziehend, welcher die Hände zum Himmel erhob und die Götter zu Zeugen anflehte. Vor der Verleum- dung her trat ein großer und wie von langer Krankheit ausgezehrter Mann, welcher den Neid vorstellte. Die Begleiterinnen der Verleum- dung selbst waren zwei Weiber, welche sie putzten und ihr zuredeten, nämlich die Falschheit und die Hinterlist. Hinterher ging eine andere Figur in schwarzer und zerrissener Kleidung, welche die Scham an- deutete, indem sie beschämt und weinend nach der Wahrheit sich umsah.
Andere moralische Eigenschaften wurden durch entferntere Be- ziehungen angedeutet, wie z. B. die Verschwiegenheit durch die Rose, weil diese die Blume der Liebe ist, welche Verschwiegenheit liebt, oder,
1Imag. c. 6.
nur die heroiſchen Tugenden oder jene, welche die Würdigkeit des Men- ſchen erheben, geſchätzt, andere aber von ihnen nicht gelehrt noch ge- ſucht wurden. An die Stelle der Geduld und Unterwerfung tritt bei den Alten die Tapferkeit und die männliche, großmüthige Tugend, welche kleine Abſichten und das Leben ſelbſt verachtet. Von der chriſt- lichen Demuth war bei den Alten ohnedieß kein Begriff anzutreffen. Alle dieſe paſſiven Tugenden, wohin auch die Reue, z. B. der Magda- lena, gehört, ſind nur in den chriſtlichen Bildern zu ſuchen. Dagegen konnten auch bei den Alten die Werke der Kunſt nicht dem Laſter ge- weiht ſeyn, und nur mit großer Einſchränkung waren allegoriſche Vor- ſtellungen davon möglich. Das berühmteſte Beiſpiel davon iſt ein Ge- mälde der Verleumdung von Apelles, deſſen Beſchreibung Lucian 1 hinterlaſſen hat. Apelles malte die Verleumdung, da er von einem ſeiner Kunſtgenoſſen bei Ptolemäos Philoſtratos als Mitſchuldiger einer Verrätherei fälſchlich angegeben worden war. Auf ſeinem Gemälde ſaß zur Rechten eine männliche Figur mit langen Ohren und reichte der Verleumdung die Hand; um dieſe herum ſtand die Unwiſſenheit und der Verdacht. Von der andern Seite trat eine andere Geſtalt der Verleumdung herbei, welche eine ſchöne Figur, aber erbost, aufgebracht war, in der rechten Hand eine brennende Fackel haltend, mit der linken einen Jüngling bei den Haaren herbeiziehend, welcher die Hände zum Himmel erhob und die Götter zu Zeugen anflehte. Vor der Verleum- dung her trat ein großer und wie von langer Krankheit ausgezehrter Mann, welcher den Neid vorſtellte. Die Begleiterinnen der Verleum- dung ſelbſt waren zwei Weiber, welche ſie putzten und ihr zuredeten, nämlich die Falſchheit und die Hinterliſt. Hinterher ging eine andere Figur in ſchwarzer und zerriſſener Kleidung, welche die Scham an- deutete, indem ſie beſchämt und weinend nach der Wahrheit ſich umſah.
Andere moraliſche Eigenſchaften wurden durch entferntere Be- ziehungen angedeutet, wie z. B. die Verſchwiegenheit durch die Roſe, weil dieſe die Blume der Liebe iſt, welche Verſchwiegenheit liebt, oder,
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nur die heroiſchen Tugenden oder jene, welche die Würdigkeit des Men-
ſchen erheben, geſchätzt, andere aber von ihnen nicht gelehrt noch ge-
ſucht wurden. An die Stelle der Geduld und Unterwerfung tritt bei
den Alten die Tapferkeit und die männliche, großmüthige Tugend,
welche kleine Abſichten und das Leben ſelbſt verachtet. Von der chriſt-
lichen Demuth war bei den Alten ohnedieß kein Begriff anzutreffen.
Alle dieſe paſſiven Tugenden, wohin auch die Reue, z. B. der Magda-
lena, gehört, ſind nur in den chriſtlichen Bildern zu ſuchen. Dagegen
konnten auch bei den Alten die Werke der Kunſt nicht dem Laſter ge-
weiht ſeyn, und nur mit großer Einſchränkung waren allegoriſche Vor-
ſtellungen davon möglich. Das berühmteſte Beiſpiel davon iſt ein Ge-
mälde der Verleumdung von Apelles, deſſen Beſchreibung Lucian 1
hinterlaſſen hat. Apelles malte die Verleumdung, da er von einem
ſeiner Kunſtgenoſſen bei Ptolemäos Philoſtratos als Mitſchuldiger einer
Verrätherei fälſchlich angegeben worden war. Auf ſeinem Gemälde ſaß
zur Rechten eine männliche Figur mit langen Ohren und reichte der
Verleumdung die Hand; um dieſe herum ſtand die Unwiſſenheit und
der Verdacht. Von der andern Seite trat eine andere Geſtalt der
Verleumdung herbei, welche eine ſchöne Figur, aber erbost, aufgebracht
war, in der rechten Hand eine brennende Fackel haltend, mit der linken
einen Jüngling bei den Haaren herbeiziehend, welcher die Hände zum
Himmel erhob und die Götter zu Zeugen anflehte. Vor der Verleum-
dung her trat ein großer und wie von langer Krankheit ausgezehrter
Mann, welcher den Neid vorſtellte. Die Begleiterinnen der Verleum-
dung ſelbſt waren zwei Weiber, welche ſie putzten und ihr zuredeten,
nämlich die Falſchheit und die Hinterliſt. Hinterher ging eine andere
Figur in ſchwarzer und zerriſſener Kleidung, welche die Scham an-
deutete, indem ſie beſchämt und weinend nach der Wahrheit ſich umſah.
Andere moraliſche Eigenſchaften wurden durch entferntere Be-
ziehungen angedeutet, wie z. B. die Verſchwiegenheit durch die Roſe,
weil dieſe die Blume der Liebe iſt, welche Verſchwiegenheit liebt, oder,
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/229>, abgerufen am 25.11.2024.
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