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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Geister von Ideen wecken, und nicht selten vor unsern Augen den
Schleier hinwegheben, der uns die unsichtbare Welt bedeckt. Allein
alle Anschauung dieser Art fällt ins Subjekt zurück. Wir sehen, daß
je dürftiger die Poesie einer Nation, sie desto mehr sich zu diesem
formlosen Wesen hinneigt. Welche Gelegenheit in Homer, Landschaften
zu schildern und doch keine Spur davon! Dagegen sind die Gesänge
des Ossian voll von Schildereien der Nebelwelt und der formlosen
Natur, die ihn umgab. Die Schönheit einer Landschaft hängt von so
vielen Zufälligkeiten ab, daß es schwer, ja unmöglich ist, ihr in der
Kunst diejenige Nothwendigkeit zu geben, welche z. B. jede organische
Gestalt in sich trägt. Es sind nicht innere, sondern äußere und ge-
waltsame Ursachen, welche die Form, den Abhang der Berge und die
Schweifungen der Thäler bestimmen. Gesetzt ein Künstler besitze so
tiefe Kenntniß der Erde, daß er in der Landschaft selbst, die er vor
uns ausgebreitet darstellt, uns zugleich die Gründe und Gesetze ihrer
Bildung, den Lauf des Flusses, der die Berge und Thäler formirt,
oder die Gewalt des unterirdischen Feuers darzustellen weiß, welches
zugleich die Zerstörung und die Ströme der Ueppigkeit über eine Ge-
gend ausgießt, gesetzt, er wisse dieß alles darzustellen, so bleibt doch
selbst der Moment des Lichts, den er wählt, der Grad der Erleuchtung
oder Dämpfung, der auf dem Ganzen liegt, eine Zufälligkeit, und da
es eigentlich diese ist, die er darstellt und zum Gegenstand macht (da
sie in den andern Gattungen ausdrücklich nur als Accidens des Gegen-
standes erscheint), da er also überhaupt das, was bloß zum Schein
gehört, als unabhängig behandelt und selbständig darstellt, so ist er
dadurch einer nicht zu überwindenden Zufälligkeit unterworfen, und er
kehrt in der Malerei selbst gewissermaßen zu der tieferen Stufe, der
formlosen Kunst, zurück.

Die Zeichnung ist in der Landschaftsmalerei als solcher eigentlich
gar nicht anzutreffen; alles beruht in ihr auf den Künsten der Luft-
perspektive, also auf der ganz empirischen Art des Helldunkels.

Die Landschaftsmalerei ist daher als eine durchaus empirische
Kunstart zu betrachten. Die Einheit, welche in einem Werk derselben

Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 35

Geiſter von Ideen wecken, und nicht ſelten vor unſern Augen den
Schleier hinwegheben, der uns die unſichtbare Welt bedeckt. Allein
alle Anſchauung dieſer Art fällt ins Subjekt zurück. Wir ſehen, daß
je dürftiger die Poeſie einer Nation, ſie deſto mehr ſich zu dieſem
formloſen Weſen hinneigt. Welche Gelegenheit in Homer, Landſchaften
zu ſchildern und doch keine Spur davon! Dagegen ſind die Geſänge
des Oſſian voll von Schildereien der Nebelwelt und der formloſen
Natur, die ihn umgab. Die Schönheit einer Landſchaft hängt von ſo
vielen Zufälligkeiten ab, daß es ſchwer, ja unmöglich iſt, ihr in der
Kunſt diejenige Nothwendigkeit zu geben, welche z. B. jede organiſche
Geſtalt in ſich trägt. Es ſind nicht innere, ſondern äußere und ge-
waltſame Urſachen, welche die Form, den Abhang der Berge und die
Schweifungen der Thäler beſtimmen. Geſetzt ein Künſtler beſitze ſo
tiefe Kenntniß der Erde, daß er in der Landſchaft ſelbſt, die er vor
uns ausgebreitet darſtellt, uns zugleich die Gründe und Geſetze ihrer
Bildung, den Lauf des Fluſſes, der die Berge und Thäler formirt,
oder die Gewalt des unterirdiſchen Feuers darzuſtellen weiß, welches
zugleich die Zerſtörung und die Ströme der Ueppigkeit über eine Ge-
gend ausgießt, geſetzt, er wiſſe dieß alles darzuſtellen, ſo bleibt doch
ſelbſt der Moment des Lichts, den er wählt, der Grad der Erleuchtung
oder Dämpfung, der auf dem Ganzen liegt, eine Zufälligkeit, und da
es eigentlich dieſe iſt, die er darſtellt und zum Gegenſtand macht (da
ſie in den andern Gattungen ausdrücklich nur als Accidens des Gegen-
ſtandes erſcheint), da er alſo überhaupt das, was bloß zum Schein
gehört, als unabhängig behandelt und ſelbſtändig darſtellt, ſo iſt er
dadurch einer nicht zu überwindenden Zufälligkeit unterworfen, und er
kehrt in der Malerei ſelbſt gewiſſermaßen zu der tieferen Stufe, der
formloſen Kunſt, zurück.

Die Zeichnung iſt in der Landſchaftsmalerei als ſolcher eigentlich
gar nicht anzutreffen; alles beruht in ihr auf den Künſten der Luft-
perſpektive, alſo auf der ganz empiriſchen Art des Helldunkels.

Die Landſchaftsmalerei iſt daher als eine durchaus empiriſche
Kunſtart zu betrachten. Die Einheit, welche in einem Werk derſelben

Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 35
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[545/0221] Geiſter von Ideen wecken, und nicht ſelten vor unſern Augen den Schleier hinwegheben, der uns die unſichtbare Welt bedeckt. Allein alle Anſchauung dieſer Art fällt ins Subjekt zurück. Wir ſehen, daß je dürftiger die Poeſie einer Nation, ſie deſto mehr ſich zu dieſem formloſen Weſen hinneigt. Welche Gelegenheit in Homer, Landſchaften zu ſchildern und doch keine Spur davon! Dagegen ſind die Geſänge des Oſſian voll von Schildereien der Nebelwelt und der formloſen Natur, die ihn umgab. Die Schönheit einer Landſchaft hängt von ſo vielen Zufälligkeiten ab, daß es ſchwer, ja unmöglich iſt, ihr in der Kunſt diejenige Nothwendigkeit zu geben, welche z. B. jede organiſche Geſtalt in ſich trägt. Es ſind nicht innere, ſondern äußere und ge- waltſame Urſachen, welche die Form, den Abhang der Berge und die Schweifungen der Thäler beſtimmen. Geſetzt ein Künſtler beſitze ſo tiefe Kenntniß der Erde, daß er in der Landſchaft ſelbſt, die er vor uns ausgebreitet darſtellt, uns zugleich die Gründe und Geſetze ihrer Bildung, den Lauf des Fluſſes, der die Berge und Thäler formirt, oder die Gewalt des unterirdiſchen Feuers darzuſtellen weiß, welches zugleich die Zerſtörung und die Ströme der Ueppigkeit über eine Ge- gend ausgießt, geſetzt, er wiſſe dieß alles darzuſtellen, ſo bleibt doch ſelbſt der Moment des Lichts, den er wählt, der Grad der Erleuchtung oder Dämpfung, der auf dem Ganzen liegt, eine Zufälligkeit, und da es eigentlich dieſe iſt, die er darſtellt und zum Gegenſtand macht (da ſie in den andern Gattungen ausdrücklich nur als Accidens des Gegen- ſtandes erſcheint), da er alſo überhaupt das, was bloß zum Schein gehört, als unabhängig behandelt und ſelbſtändig darſtellt, ſo iſt er dadurch einer nicht zu überwindenden Zufälligkeit unterworfen, und er kehrt in der Malerei ſelbſt gewiſſermaßen zu der tieferen Stufe, der formloſen Kunſt, zurück. Die Zeichnung iſt in der Landſchaftsmalerei als ſolcher eigentlich gar nicht anzutreffen; alles beruht in ihr auf den Künſten der Luft- perſpektive, alſo auf der ganz empiriſchen Art des Helldunkels. Die Landſchaftsmalerei iſt daher als eine durchaus empiriſche Kunſtart zu betrachten. Die Einheit, welche in einem Werk derſelben Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 35

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/221>, abgerufen am 22.11.2024.