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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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in welcher Beziehung man sagen kann, daß Tizian den ersten Grund
derselben gelegt habe. -- Wir haben noch von der Nothwendigkeit des
Helldunkels als der Einen Form der Malerei und den Grenzen dieser
Nothwendigkeit zu reden.

Daß das Helldunkel die einzig mögliche Art sey, selbst ohne Far-
bengebung, in der Zeichnung, den Schein des Körperlichen zu erreichen,
lehrt jeden die unmittelbare Anschauung. Dieß verhindert aber nicht,
daß diese Form mehr oder weniger unabhängig behandelt, und die
Wahrheit mehr dem Schein oder der Schein der Wahrheit unterge-
ordnet werden könne. Die Meinung ist diese: die Malerei ist die
Kunst, in der Schein und Wahrheit eins, der Schein Wahrheit und
die Wahrheit Schein seyn muß. Aber man kann den Schein entweder
nur wollen, soweit er vermöge der Natur dieser Kunst zur Wahrheit
erforderlich ist, oder man kann ihn um seiner selbst willen lieben. Nie-
mals zwar wird es in der Malerei einen Schein geben können, der
nicht zugleich Wahrheit wäre; was nicht Wahrheit ist, ist hier auch
nicht Schein; aber es kann entweder die Wahrheit als Bedingung des
Scheins oder der Schein als Bedingung der Wahrheit dargestellt und
eins dem andern untergeordnet werden. Dieß wird zwei ganz ver-
schiedene Arten des Styls geben. Correggio, den wir eben als Meister
des Helldunkels aufgestellt haben, hat den der ersten Art. In seiner
Kunst ist durchgängig die tiefste Wahrheit, aber der Schein ist als das
Erste behandelt, oder der Schein gilt weiter, als zur Wahrheit an und
für sich erforderlich ist.

Wir können uns auch hier wieder nicht besser als durch das
Verhältniß des Antiken und Modernen erläutern. Jenes geht auf
das Nothwendige, und nimmt das Ideale nur soweit auf, als es zu
diesem erforderlich ist, dieses macht das Ideale selbst zu einem Selb-
ständigen und Nothwendigen; es geht damit nicht über die Grenze der
Kunst, aber es geht in eine andere Sphäre derselben. Es existirt keine
absolute Forderung in der Kunst, daß Täuschung sey, welche ein-
tritt, sowie der Schein weiter aufgenommen wird als zu der Wahrheit
an und für sich selbst, wenn er also bis zur empirischen,

in welcher Beziehung man ſagen kann, daß Tizian den erſten Grund
derſelben gelegt habe. — Wir haben noch von der Nothwendigkeit des
Helldunkels als der Einen Form der Malerei und den Grenzen dieſer
Nothwendigkeit zu reden.

Daß das Helldunkel die einzig mögliche Art ſey, ſelbſt ohne Far-
bengebung, in der Zeichnung, den Schein des Körperlichen zu erreichen,
lehrt jeden die unmittelbare Anſchauung. Dieß verhindert aber nicht,
daß dieſe Form mehr oder weniger unabhängig behandelt, und die
Wahrheit mehr dem Schein oder der Schein der Wahrheit unterge-
ordnet werden könne. Die Meinung iſt dieſe: die Malerei iſt die
Kunſt, in der Schein und Wahrheit eins, der Schein Wahrheit und
die Wahrheit Schein ſeyn muß. Aber man kann den Schein entweder
nur wollen, ſoweit er vermöge der Natur dieſer Kunſt zur Wahrheit
erforderlich iſt, oder man kann ihn um ſeiner ſelbſt willen lieben. Nie-
mals zwar wird es in der Malerei einen Schein geben können, der
nicht zugleich Wahrheit wäre; was nicht Wahrheit iſt, iſt hier auch
nicht Schein; aber es kann entweder die Wahrheit als Bedingung des
Scheins oder der Schein als Bedingung der Wahrheit dargeſtellt und
eins dem andern untergeordnet werden. Dieß wird zwei ganz ver-
ſchiedene Arten des Styls geben. Correggio, den wir eben als Meiſter
des Helldunkels aufgeſtellt haben, hat den der erſten Art. In ſeiner
Kunſt iſt durchgängig die tiefſte Wahrheit, aber der Schein iſt als das
Erſte behandelt, oder der Schein gilt weiter, als zur Wahrheit an und
für ſich erforderlich iſt.

Wir können uns auch hier wieder nicht beſſer als durch das
Verhältniß des Antiken und Modernen erläutern. Jenes geht auf
das Nothwendige, und nimmt das Ideale nur ſoweit auf, als es zu
dieſem erforderlich iſt, dieſes macht das Ideale ſelbſt zu einem Selb-
ſtändigen und Nothwendigen; es geht damit nicht über die Grenze der
Kunſt, aber es geht in eine andere Sphäre derſelben. Es exiſtirt keine
abſolute Forderung in der Kunſt, daß Täuſchung ſey, welche ein-
tritt, ſowie der Schein weiter aufgenommen wird als zu der Wahrheit
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[536/0212] in welcher Beziehung man ſagen kann, daß Tizian den erſten Grund derſelben gelegt habe. — Wir haben noch von der Nothwendigkeit des Helldunkels als der Einen Form der Malerei und den Grenzen dieſer Nothwendigkeit zu reden. Daß das Helldunkel die einzig mögliche Art ſey, ſelbſt ohne Far- bengebung, in der Zeichnung, den Schein des Körperlichen zu erreichen, lehrt jeden die unmittelbare Anſchauung. Dieß verhindert aber nicht, daß dieſe Form mehr oder weniger unabhängig behandelt, und die Wahrheit mehr dem Schein oder der Schein der Wahrheit unterge- ordnet werden könne. Die Meinung iſt dieſe: die Malerei iſt die Kunſt, in der Schein und Wahrheit eins, der Schein Wahrheit und die Wahrheit Schein ſeyn muß. Aber man kann den Schein entweder nur wollen, ſoweit er vermöge der Natur dieſer Kunſt zur Wahrheit erforderlich iſt, oder man kann ihn um ſeiner ſelbſt willen lieben. Nie- mals zwar wird es in der Malerei einen Schein geben können, der nicht zugleich Wahrheit wäre; was nicht Wahrheit iſt, iſt hier auch nicht Schein; aber es kann entweder die Wahrheit als Bedingung des Scheins oder der Schein als Bedingung der Wahrheit dargeſtellt und eins dem andern untergeordnet werden. Dieß wird zwei ganz ver- ſchiedene Arten des Styls geben. Correggio, den wir eben als Meiſter des Helldunkels aufgeſtellt haben, hat den der erſten Art. In ſeiner Kunſt iſt durchgängig die tiefſte Wahrheit, aber der Schein iſt als das Erſte behandelt, oder der Schein gilt weiter, als zur Wahrheit an und für ſich erforderlich iſt. Wir können uns auch hier wieder nicht beſſer als durch das Verhältniß des Antiken und Modernen erläutern. Jenes geht auf das Nothwendige, und nimmt das Ideale nur ſoweit auf, als es zu dieſem erforderlich iſt, dieſes macht das Ideale ſelbſt zu einem Selb- ſtändigen und Nothwendigen; es geht damit nicht über die Grenze der Kunſt, aber es geht in eine andere Sphäre derſelben. Es exiſtirt keine abſolute Forderung in der Kunſt, daß Täuſchung ſey, welche ein- tritt, ſowie der Schein weiter aufgenommen wird als zu der Wahrheit an und für ſich ſelbſt, wenn er alſo bis zur empiriſchen,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/212>, abgerufen am 24.11.2024.