alle Kunstformen als solche nur besondere sind, und ihr Bestreben seyn muß, in der besonderen Form absolute Kunst zu seyn, so ist leicht ein- zusehen, daß die Malerei, wenn sie auch als besondere Form alle For- derungen erfüllte, ohne denen der allgemeinen Kunst zu genügen, durch- aus mangelhaft seyn würde. Die bildende Kunst überhaupt ist im Ganzen der realen Einheit untergeordnet; die reale Form ist also die erste Forderung an bildende Kunst, wie z. B. der Rhythmus an die Musik. Die Zeichnung ist der Rhythmus der Malerei. Die Wider- sprüche der Kunstkenner oder Kunstrichter über die größere Wichtigkeit der Zeichnung oder des Kolorits beruhen auf einem nicht geringeren Mißverstand, als etwa in Ansehung der Musik, ob Rhythmus oder Melodie wichtiger. Man sagt: es gibt Gemälde, die, obgleich der Zeichnung nach nur mittelmäßig, dennoch wegen ihrer Vortrefflichkeit von Seiten des Colorits unter die Meisterwerke gesetzt werden. Es kann nicht zweifelhaft seyn, wenn es wirklich solche Gemälde gibt, wor- auf sich ein solches Kennerurtheil gründe. Ganz gewiß nicht auf die eigentliche Bewunderung der Kunst, sondern auf den angenehmen sinn- lichen Effekt, den ein gut colorirtes Gemälde auch ohne allen Werth der Zeichnung machen kann. Die Richtung der Kunst geht aber überall nicht auf das Sinnliche, sondern auf eine über alle Sinnlichkeit erhabene Schönheit. Der Ausdruck des absoluten Erkennens an den Dingen ist die Form; bloß durch diese erheben sie sich in das Reich des Lichts. Die Form ist demnach das Erste an den Dingen, wodurch sie auch der Kunst eignen. Die Farbe ist nur das, wodurch auch das Stoffartige der Dinge zur Form wird; sie ist nur die höhere Potenz der Form. Alle Form aber hängt von der Zeichnung ab. Nur durch die Zeichnung also ist die Malerei überhaupt Kunst, so wie sie nur durch die Farbe Malerei ist. Die Malerei als solche nimmt die rein-ideale Seite der Dinge auf, aber ihr Hauptzweck ist keineswegs jene grobe Täuschung, die man gewöhnlich dafür angibt, uns den ge- malten Gegenstand für einen wirklich vorhandenen ansehen zu machen. Diese Täuschung in ihrer Vollkommenheit wäre ohne die hinzukommende Wahrheit der Farben und das daraus entspringende Leben nicht zu
alle Kunſtformen als ſolche nur beſondere ſind, und ihr Beſtreben ſeyn muß, in der beſonderen Form abſolute Kunſt zu ſeyn, ſo iſt leicht ein- zuſehen, daß die Malerei, wenn ſie auch als beſondere Form alle For- derungen erfüllte, ohne denen der allgemeinen Kunſt zu genügen, durch- aus mangelhaft ſeyn würde. Die bildende Kunſt überhaupt iſt im Ganzen der realen Einheit untergeordnet; die reale Form iſt alſo die erſte Forderung an bildende Kunſt, wie z. B. der Rhythmus an die Muſik. Die Zeichnung iſt der Rhythmus der Malerei. Die Wider- ſprüche der Kunſtkenner oder Kunſtrichter über die größere Wichtigkeit der Zeichnung oder des Kolorits beruhen auf einem nicht geringeren Mißverſtand, als etwa in Anſehung der Muſik, ob Rhythmus oder Melodie wichtiger. Man ſagt: es gibt Gemälde, die, obgleich der Zeichnung nach nur mittelmäßig, dennoch wegen ihrer Vortrefflichkeit von Seiten des Colorits unter die Meiſterwerke geſetzt werden. Es kann nicht zweifelhaft ſeyn, wenn es wirklich ſolche Gemälde gibt, wor- auf ſich ein ſolches Kennerurtheil gründe. Ganz gewiß nicht auf die eigentliche Bewunderung der Kunſt, ſondern auf den angenehmen ſinn- lichen Effekt, den ein gut colorirtes Gemälde auch ohne allen Werth der Zeichnung machen kann. Die Richtung der Kunſt geht aber überall nicht auf das Sinnliche, ſondern auf eine über alle Sinnlichkeit erhabene Schönheit. Der Ausdruck des abſoluten Erkennens an den Dingen iſt die Form; bloß durch dieſe erheben ſie ſich in das Reich des Lichts. Die Form iſt demnach das Erſte an den Dingen, wodurch ſie auch der Kunſt eignen. Die Farbe iſt nur das, wodurch auch das Stoffartige der Dinge zur Form wird; ſie iſt nur die höhere Potenz der Form. Alle Form aber hängt von der Zeichnung ab. Nur durch die Zeichnung alſo iſt die Malerei überhaupt Kunſt, ſo wie ſie nur durch die Farbe Malerei iſt. Die Malerei als ſolche nimmt die rein-ideale Seite der Dinge auf, aber ihr Hauptzweck iſt keineswegs jene grobe Täuſchung, die man gewöhnlich dafür angibt, uns den ge- malten Gegenſtand für einen wirklich vorhandenen anſehen zu machen. Dieſe Täuſchung in ihrer Vollkommenheit wäre ohne die hinzukommende Wahrheit der Farben und das daraus entſpringende Leben nicht zu
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alle Kunſtformen als ſolche nur beſondere ſind, und ihr Beſtreben ſeyn
muß, in der beſonderen Form abſolute Kunſt zu ſeyn, ſo iſt leicht ein-
zuſehen, daß die Malerei, wenn ſie auch als beſondere Form alle For-
derungen erfüllte, ohne denen der allgemeinen Kunſt zu genügen, durch-
aus mangelhaft ſeyn würde. Die bildende Kunſt überhaupt iſt im
Ganzen der realen Einheit untergeordnet; die reale Form iſt alſo die
erſte Forderung an bildende Kunſt, wie z. B. der Rhythmus an die
Muſik. Die Zeichnung iſt der Rhythmus der Malerei. Die Wider-
ſprüche der Kunſtkenner oder Kunſtrichter über die größere Wichtigkeit
der Zeichnung oder des Kolorits beruhen auf einem nicht geringeren
Mißverſtand, als etwa in Anſehung der Muſik, ob Rhythmus oder
Melodie wichtiger. Man ſagt: es gibt Gemälde, die, obgleich der
Zeichnung nach nur mittelmäßig, dennoch wegen ihrer Vortrefflichkeit
von Seiten des Colorits unter die Meiſterwerke geſetzt werden. Es
kann nicht zweifelhaft ſeyn, wenn es wirklich ſolche Gemälde gibt, wor-
auf ſich ein ſolches Kennerurtheil gründe. Ganz gewiß nicht auf die
eigentliche Bewunderung der Kunſt, ſondern auf den angenehmen ſinn-
lichen Effekt, den ein gut colorirtes Gemälde auch ohne allen Werth
der Zeichnung machen kann. Die Richtung der Kunſt geht aber überall
nicht auf das Sinnliche, ſondern auf eine über alle Sinnlichkeit
erhabene Schönheit. Der Ausdruck des abſoluten Erkennens an
den Dingen iſt die Form; bloß durch dieſe erheben ſie ſich in das
Reich des Lichts. Die Form iſt demnach das Erſte an den Dingen,
wodurch ſie auch der Kunſt eignen. Die Farbe iſt nur das, wodurch
auch das Stoffartige der Dinge zur Form wird; ſie iſt nur die höhere
Potenz der Form. Alle Form aber hängt von der Zeichnung ab. Nur
durch die Zeichnung alſo iſt die Malerei überhaupt Kunſt, ſo wie ſie
nur durch die Farbe Malerei iſt. Die Malerei als ſolche nimmt die
rein-ideale Seite der Dinge auf, aber ihr Hauptzweck iſt keineswegs
jene grobe Täuſchung, die man gewöhnlich dafür angibt, uns den ge-
malten Gegenſtand für einen wirklich vorhandenen anſehen zu machen.
Dieſe Täuſchung in ihrer Vollkommenheit wäre ohne die hinzukommende
Wahrheit der Farben und das daraus entſpringende Leben nicht zu
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/196>, abgerufen am 22.11.2024.
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