oder der Einheit erscheint. Jene bleibt gleichsam der Naturbestimmung der Musik getreuer, welche die ist, eine Kunst in der Succession zu seyn, sie ist daher realistisch; diese möchte in der tieferen Sphäre gern die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succession gleichsam ideal aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darstellen. Die rhythmische Musik, welche das Unendliche im Endlichen darstellt, wird mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüstigen Affekts, die harmo- nische mehr des Strebens und der Sehnsucht seyn. Daher es noth- wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanschauung auf der Sehnsucht und dem Zurückstreben der Differenz in die Einheit beruht, das gemeinschaftliche, von jedem Subjekt insbesondere ausgehende Stre- ben, im Absoluten sich als Eins mit allen anzusehen, durch die harmo- nische, rhythmuslose Musik sich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein, wie in den griechischen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung, sich völlig zum Besonderen gebildet hatte und es selbst war, gleichwie er in seiner Erscheinung als Staat rhythmisch war, so auch in der Kunst rhythmisch seyn mußte.
Wer, ohne anschauliche Kenntniß von der Musik insbesondere zu haben, sich dennoch eine Anschauung des Verhältnisses von Rhythmus und rhythmischer Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakespeare. Ein Sophokles'sches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig- keit ist dargestellt, es hat keine überflüssige Breite; Shakespeare dagegen ist der größte Harmonist, Meister im dramatischen Contrapunkt; es ist nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es ist zu- gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verschiedenen Seiten kom- mender Reflex, was uns dadurch vorgestellt wird. Man vergleiche z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie der Begebenheit, anstatt daß hier dem Schicksal des von seinen Töch- tern verstoßenen Lear die Geschichte eines Sohns, der von seinem Vater verstoßen, und so jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder ein anderes Moment entgegengesetzt ist, von dem es begleitet und reflek- tirt wird.
oder der Einheit erſcheint. Jene bleibt gleichſam der Naturbeſtimmung der Muſik getreuer, welche die iſt, eine Kunſt in der Succeſſion zu ſeyn, ſie iſt daher realiſtiſch; dieſe möchte in der tieferen Sphäre gern die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succeſſion gleichſam ideal aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darſtellen. Die rhythmiſche Muſik, welche das Unendliche im Endlichen darſtellt, wird mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüſtigen Affekts, die harmo- niſche mehr des Strebens und der Sehnſucht ſeyn. Daher es noth- wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanſchauung auf der Sehnſucht und dem Zurückſtreben der Differenz in die Einheit beruht, das gemeinſchaftliche, von jedem Subjekt insbeſondere ausgehende Stre- ben, im Abſoluten ſich als Eins mit allen anzuſehen, durch die harmo- niſche, rhythmusloſe Muſik ſich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein, wie in den griechiſchen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung, ſich völlig zum Beſonderen gebildet hatte und es ſelbſt war, gleichwie er in ſeiner Erſcheinung als Staat rhythmiſch war, ſo auch in der Kunſt rhythmiſch ſeyn mußte.
Wer, ohne anſchauliche Kenntniß von der Muſik insbeſondere zu haben, ſich dennoch eine Anſchauung des Verhältniſſes von Rhythmus und rhythmiſcher Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakeſpeare. Ein Sophokles’ſches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig- keit iſt dargeſtellt, es hat keine überflüſſige Breite; Shakeſpeare dagegen iſt der größte Harmoniſt, Meiſter im dramatiſchen Contrapunkt; es iſt nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es iſt zu- gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verſchiedenen Seiten kom- mender Reflex, was uns dadurch vorgeſtellt wird. Man vergleiche z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie der Begebenheit, anſtatt daß hier dem Schickſal des von ſeinen Töch- tern verſtoßenen Lear die Geſchichte eines Sohns, der von ſeinem Vater verſtoßen, und ſo jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder ein anderes Moment entgegengeſetzt iſt, von dem es begleitet und reflek- tirt wird.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0176"n="500"/>
oder der Einheit erſcheint. Jene bleibt gleichſam der Naturbeſtimmung<lb/>
der Muſik getreuer, welche die iſt, eine Kunſt in der Succeſſion zu<lb/>ſeyn, ſie iſt daher realiſtiſch; dieſe möchte in der tieferen Sphäre gern<lb/>
die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succeſſion gleichſam ideal<lb/>
aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darſtellen. Die<lb/>
rhythmiſche Muſik, welche das Unendliche im Endlichen darſtellt, wird<lb/>
mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüſtigen Affekts, die harmo-<lb/>
niſche mehr des Strebens und der Sehnſucht ſeyn. Daher es noth-<lb/>
wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanſchauung auf der<lb/>
Sehnſucht und dem Zurückſtreben der Differenz in die Einheit beruht,<lb/>
das gemeinſchaftliche, von jedem Subjekt insbeſondere ausgehende Stre-<lb/>
ben, im Abſoluten ſich als Eins mit allen anzuſehen, durch die harmo-<lb/>
niſche, rhythmusloſe Muſik ſich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein,<lb/>
wie in den griechiſchen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung,<lb/>ſich völlig zum Beſonderen gebildet hatte und es ſelbſt war, gleichwie<lb/>
er in ſeiner Erſcheinung als Staat rhythmiſch war, ſo auch in der<lb/>
Kunſt rhythmiſch ſeyn mußte.</p><lb/><p>Wer, ohne anſchauliche Kenntniß von der Muſik insbeſondere zu<lb/>
haben, ſich dennoch eine Anſchauung des Verhältniſſes von Rhythmus<lb/>
und rhythmiſcher Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in<lb/>
Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakeſpeare.<lb/>
Ein Sophokles’ſches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig-<lb/>
keit iſt dargeſtellt, es hat keine überflüſſige Breite; Shakeſpeare dagegen<lb/>
iſt der größte Harmoniſt, Meiſter im dramatiſchen Contrapunkt; es<lb/>
iſt nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es iſt zu-<lb/>
gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verſchiedenen Seiten kom-<lb/>
mender Reflex, was uns dadurch vorgeſtellt wird. Man vergleiche<lb/>
z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie<lb/>
der Begebenheit, anſtatt daß hier dem Schickſal des von ſeinen Töch-<lb/>
tern verſtoßenen Lear die Geſchichte eines Sohns, der von ſeinem<lb/>
Vater verſtoßen, und ſo jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder<lb/>
ein anderes Moment entgegengeſetzt iſt, von dem es begleitet und reflek-<lb/>
tirt wird.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[500/0176]
oder der Einheit erſcheint. Jene bleibt gleichſam der Naturbeſtimmung
der Muſik getreuer, welche die iſt, eine Kunſt in der Succeſſion zu
ſeyn, ſie iſt daher realiſtiſch; dieſe möchte in der tieferen Sphäre gern
die höhere ideale Einheit vorausnehmen, die Succeſſion gleichſam ideal
aufheben und die Vielheit in dem Moment als Einheit darſtellen. Die
rhythmiſche Muſik, welche das Unendliche im Endlichen darſtellt, wird
mehr Ausdruck der Befriedigung und des rüſtigen Affekts, die harmo-
niſche mehr des Strebens und der Sehnſucht ſeyn. Daher es noth-
wendig war, daß eben in der Kirche, deren Grundanſchauung auf der
Sehnſucht und dem Zurückſtreben der Differenz in die Einheit beruht,
das gemeinſchaftliche, von jedem Subjekt insbeſondere ausgehende Stre-
ben, im Abſoluten ſich als Eins mit allen anzuſehen, durch die harmo-
niſche, rhythmusloſe Muſik ſich ausdrücken mußte. Dagegen ein Verein,
wie in den griechiſchen Staaten, wo ein rein Allgemeines, die Gattung,
ſich völlig zum Beſonderen gebildet hatte und es ſelbſt war, gleichwie
er in ſeiner Erſcheinung als Staat rhythmiſch war, ſo auch in der
Kunſt rhythmiſch ſeyn mußte.
Wer, ohne anſchauliche Kenntniß von der Muſik insbeſondere zu
haben, ſich dennoch eine Anſchauung des Verhältniſſes von Rhythmus
und rhythmiſcher Melodie zur Harmonie geben will, der vergleiche in
Gedanken etwa ein Stück des Sophokles mit einem des Shakeſpeare.
Ein Sophokles’ſches Werk hat reinen Rhythmus, nur die Nothwendig-
keit iſt dargeſtellt, es hat keine überflüſſige Breite; Shakeſpeare dagegen
iſt der größte Harmoniſt, Meiſter im dramatiſchen Contrapunkt; es
iſt nicht der einfache Rhythmus einer einzigen Begebenheit, es iſt zu-
gleich ihre ganze Begleitung und ihr von verſchiedenen Seiten kom-
mender Reflex, was uns dadurch vorgeſtellt wird. Man vergleiche
z. B. den Oedipus und Lear. Dort nichts als die reine Melodie
der Begebenheit, anſtatt daß hier dem Schickſal des von ſeinen Töch-
tern verſtoßenen Lear die Geſchichte eines Sohns, der von ſeinem
Vater verſtoßen, und ſo jedem einzelnen Moment des Ganzen wieder
ein anderes Moment entgegengeſetzt iſt, von dem es begleitet und reflek-
tirt wird.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/176>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.