Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

vollkommensten Werke und ihre eignen mühsamsten Erwerbungen ver-
dirbt und verschwendet sie in dem Augenblick, und bildet dagegen an
einem Werke der Thorheit Jahrhunderte lang fort. Dieser Abfall der
Natur im Großen von der Regel des Verstandes ist es, (setzt Schiller
hinzu) was die absolute Unmöglichkeit unmittelbar sichtbar macht, die
Natur selbst wieder durch Naturgesetze zu erklären, die bloß in ihr,
aber nicht von ihr gelten. Die einfache Betrachtung hievon führt das
Gemüth schon unwiderstehlich hinaus über die Welt der Erscheinungen
in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte". Der Held der
Tragödie, der alle Härten und Tücken des Schicksals zusammengehäuft
auf sich dennoch ruhig erträgt, repräsentirt eben deßwegen jenes An-
sich
, jenes Unbedingte und Absolute selbst wieder in seiner Person;
sicher seines Plans, den keine Zeit ausführt, aber auch keine vernichtet,
blickt er auf den Strom des Weltlaufs ruhig herab. Das Unglück,
welches die tragische Person sinnlich niederwirft und vernichtet, ist
ein ebenso nothwendiges Element der sittlich-erhabenen als der Streit
der Naturkräfte und die Uebermacht der Natur über die bloß sinnliche
Fassungskraft für das physisch-Erhabene. Nur im Unglück wird die
Tugend, nur in der Gefahr die Tapferkeit erprobt; der Tapfere im
Kampf mit dem ersten, worin er weder physisch siegt, noch moralisch
unterliegt, ist nur Symbol des Unendlichen, dessen, was über alles
Leiden
ist. Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip
offenbar werden, in dem kein Leiden ist, wie alles überall nur in
seinem Entgegengesetzten objektiv wird. Das wahre tragisch Erhabene
ruht eben deßwegen auf den zwei Bedingungen, daß die moralische Person
den Naturkräften unterliegt und zugleich durch die Gesinnung siegt; es
ist wesentlich, daß der Held nur durch das siege, was nicht Naturwirkung
oder Glück seyn kann, also nur durch die Gesinnung, wie bei Sophokles
immer, nicht daß etwas Anderes, Fremdartiges, wie oft schon bei Euripi-
des, das Herbe seines Schicksals vermeintlich wieder lindere. Die falsche
Schonung, welche dem schlaffen Geschmack huldigt, der den ernsten An-
blick der Nothwendigkeit nicht erträgt, ist selbst nicht nur an sich verächt-
lich, sondern verfehlt auch die eigentliche Kunstwirkung, die sie beabsichtigt.

vollkommenſten Werke und ihre eignen mühſamſten Erwerbungen ver-
dirbt und verſchwendet ſie in dem Augenblick, und bildet dagegen an
einem Werke der Thorheit Jahrhunderte lang fort. Dieſer Abfall der
Natur im Großen von der Regel des Verſtandes iſt es, (ſetzt Schiller
hinzu) was die abſolute Unmöglichkeit unmittelbar ſichtbar macht, die
Natur ſelbſt wieder durch Naturgeſetze zu erklären, die bloß in ihr,
aber nicht von ihr gelten. Die einfache Betrachtung hievon führt das
Gemüth ſchon unwiderſtehlich hinaus über die Welt der Erſcheinungen
in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte“. Der Held der
Tragödie, der alle Härten und Tücken des Schickſals zuſammengehäuft
auf ſich dennoch ruhig erträgt, repräſentirt eben deßwegen jenes An-
ſich
, jenes Unbedingte und Abſolute ſelbſt wieder in ſeiner Perſon;
ſicher ſeines Plans, den keine Zeit ausführt, aber auch keine vernichtet,
blickt er auf den Strom des Weltlaufs ruhig herab. Das Unglück,
welches die tragiſche Perſon ſinnlich niederwirft und vernichtet, iſt
ein ebenſo nothwendiges Element der ſittlich-erhabenen als der Streit
der Naturkräfte und die Uebermacht der Natur über die bloß ſinnliche
Faſſungskraft für das phyſiſch-Erhabene. Nur im Unglück wird die
Tugend, nur in der Gefahr die Tapferkeit erprobt; der Tapfere im
Kampf mit dem erſten, worin er weder phyſiſch ſiegt, noch moraliſch
unterliegt, iſt nur Symbol des Unendlichen, deſſen, was über alles
Leiden
iſt. Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip
offenbar werden, in dem kein Leiden iſt, wie alles überall nur in
ſeinem Entgegengeſetzten objektiv wird. Das wahre tragiſch Erhabene
ruht eben deßwegen auf den zwei Bedingungen, daß die moraliſche Perſon
den Naturkräften unterliegt und zugleich durch die Geſinnung ſiegt; es
iſt weſentlich, daß der Held nur durch das ſiege, was nicht Naturwirkung
oder Glück ſeyn kann, alſo nur durch die Geſinnung, wie bei Sophokles
immer, nicht daß etwas Anderes, Fremdartiges, wie oft ſchon bei Euripi-
des, das Herbe ſeines Schickſals vermeintlich wieder lindere. Die falſche
Schonung, welche dem ſchlaffen Geſchmack huldigt, der den ernſten An-
blick der Nothwendigkeit nicht erträgt, iſt ſelbſt nicht nur an ſich verächt-
lich, ſondern verfehlt auch die eigentliche Kunſtwirkung, die ſie beabſichtigt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0143" n="467"/>
vollkommen&#x017F;ten Werke und ihre eignen müh&#x017F;am&#x017F;ten Erwerbungen ver-<lb/>
dirbt und ver&#x017F;chwendet &#x017F;ie in dem Augenblick, und bildet dagegen an<lb/>
einem Werke der Thorheit Jahrhunderte lang fort. Die&#x017F;er Abfall der<lb/>
Natur im Großen von der Regel des Ver&#x017F;tandes i&#x017F;t es, (&#x017F;etzt Schiller<lb/>
hinzu) was die ab&#x017F;olute Unmöglichkeit unmittelbar &#x017F;ichtbar macht, die<lb/>
Natur &#x017F;elb&#x017F;t wieder durch Naturge&#x017F;etze zu erklären, die bloß in ihr,<lb/>
aber nicht von ihr gelten. Die einfache Betrachtung hievon führt das<lb/>
Gemüth &#x017F;chon unwider&#x017F;tehlich hinaus über die Welt der Er&#x017F;cheinungen<lb/>
in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte&#x201C;. Der Held der<lb/>
Tragödie, der alle Härten und Tücken des Schick&#x017F;als zu&#x017F;ammengehäuft<lb/>
auf &#x017F;ich dennoch ruhig erträgt, reprä&#x017F;entirt eben deßwegen jenes <hi rendition="#g">An-<lb/>
&#x017F;ich</hi>, jenes Unbedingte und Ab&#x017F;olute &#x017F;elb&#x017F;t wieder in &#x017F;einer Per&#x017F;on;<lb/>
&#x017F;icher &#x017F;eines Plans, den keine Zeit ausführt, aber auch keine vernichtet,<lb/>
blickt er auf den Strom des Weltlaufs ruhig herab. Das Unglück,<lb/>
welches die tragi&#x017F;che Per&#x017F;on <hi rendition="#g">&#x017F;innlich</hi> niederwirft und vernichtet, i&#x017F;t<lb/>
ein eben&#x017F;o nothwendiges Element der &#x017F;ittlich-erhabenen als der Streit<lb/>
der Naturkräfte und die Uebermacht der Natur über die bloß &#x017F;innliche<lb/>
Fa&#x017F;&#x017F;ungskraft für das <hi rendition="#g">phy&#x017F;i&#x017F;ch</hi>-Erhabene. Nur im Unglück wird die<lb/>
Tugend, nur in der Gefahr die Tapferkeit erprobt; der Tapfere im<lb/>
Kampf mit dem er&#x017F;ten, worin er weder phy&#x017F;i&#x017F;ch &#x017F;iegt, noch morali&#x017F;ch<lb/>
unterliegt, i&#x017F;t nur Symbol des Unendlichen, de&#x017F;&#x017F;en, was <hi rendition="#g">über alles<lb/>
Leiden</hi> i&#x017F;t. Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip<lb/>
offenbar werden, in dem <hi rendition="#g">kein</hi> Leiden i&#x017F;t, wie alles überall nur in<lb/>
&#x017F;einem Entgegenge&#x017F;etzten objektiv wird. Das wahre tragi&#x017F;ch Erhabene<lb/>
ruht eben deßwegen auf den zwei Bedingungen, daß die morali&#x017F;che Per&#x017F;on<lb/>
den Naturkräften unterliegt und zugleich durch die <hi rendition="#g">Ge&#x017F;innung</hi> &#x017F;iegt; es<lb/>
i&#x017F;t we&#x017F;entlich, daß der Held nur durch das &#x017F;iege, was nicht Naturwirkung<lb/>
oder Glück &#x017F;eyn kann, al&#x017F;o nur durch die Ge&#x017F;innung, wie bei Sophokles<lb/>
immer, nicht daß etwas Anderes, Fremdartiges, wie oft &#x017F;chon bei Euripi-<lb/>
des, das Herbe &#x017F;eines Schick&#x017F;als vermeintlich wieder lindere. Die <hi rendition="#g">fal&#x017F;che</hi><lb/>
Schonung, welche dem &#x017F;chlaffen Ge&#x017F;chmack huldigt, der den ern&#x017F;ten An-<lb/>
blick der Nothwendigkeit nicht erträgt, i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t nicht nur an &#x017F;ich verächt-<lb/>
lich, &#x017F;ondern verfehlt auch die eigentliche Kun&#x017F;twirkung, die &#x017F;ie beab&#x017F;ichtigt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[467/0143] vollkommenſten Werke und ihre eignen mühſamſten Erwerbungen ver- dirbt und verſchwendet ſie in dem Augenblick, und bildet dagegen an einem Werke der Thorheit Jahrhunderte lang fort. Dieſer Abfall der Natur im Großen von der Regel des Verſtandes iſt es, (ſetzt Schiller hinzu) was die abſolute Unmöglichkeit unmittelbar ſichtbar macht, die Natur ſelbſt wieder durch Naturgeſetze zu erklären, die bloß in ihr, aber nicht von ihr gelten. Die einfache Betrachtung hievon führt das Gemüth ſchon unwiderſtehlich hinaus über die Welt der Erſcheinungen in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte“. Der Held der Tragödie, der alle Härten und Tücken des Schickſals zuſammengehäuft auf ſich dennoch ruhig erträgt, repräſentirt eben deßwegen jenes An- ſich, jenes Unbedingte und Abſolute ſelbſt wieder in ſeiner Perſon; ſicher ſeines Plans, den keine Zeit ausführt, aber auch keine vernichtet, blickt er auf den Strom des Weltlaufs ruhig herab. Das Unglück, welches die tragiſche Perſon ſinnlich niederwirft und vernichtet, iſt ein ebenſo nothwendiges Element der ſittlich-erhabenen als der Streit der Naturkräfte und die Uebermacht der Natur über die bloß ſinnliche Faſſungskraft für das phyſiſch-Erhabene. Nur im Unglück wird die Tugend, nur in der Gefahr die Tapferkeit erprobt; der Tapfere im Kampf mit dem erſten, worin er weder phyſiſch ſiegt, noch moraliſch unterliegt, iſt nur Symbol des Unendlichen, deſſen, was über alles Leiden iſt. Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip offenbar werden, in dem kein Leiden iſt, wie alles überall nur in ſeinem Entgegengeſetzten objektiv wird. Das wahre tragiſch Erhabene ruht eben deßwegen auf den zwei Bedingungen, daß die moraliſche Perſon den Naturkräften unterliegt und zugleich durch die Geſinnung ſiegt; es iſt weſentlich, daß der Held nur durch das ſiege, was nicht Naturwirkung oder Glück ſeyn kann, alſo nur durch die Geſinnung, wie bei Sophokles immer, nicht daß etwas Anderes, Fremdartiges, wie oft ſchon bei Euripi- des, das Herbe ſeines Schickſals vermeintlich wieder lindere. Die falſche Schonung, welche dem ſchlaffen Geſchmack huldigt, der den ernſten An- blick der Nothwendigkeit nicht erträgt, iſt ſelbſt nicht nur an ſich verächt- lich, ſondern verfehlt auch die eigentliche Kunſtwirkung, die ſie beabſichtigt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/143
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/143>, abgerufen am 25.11.2024.