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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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historischen Stoff seiner Nationalgeschichte, sondern auch aus den Sitten
seiner Zeit und seines Volkes. Es ist in Shakespeare, der großen
Mannichfaltigkeit seiner Werke unerachtet, dennoch Eine Welt; überall
schaut man ihn als einen und denselben an, und ist man bis auf die
Grundanschauung von ihm durchgedrungen, so findet man sich in jedem
seiner Werke gleich wieder auf dem ihm eignen Boden (Falstaff. Lear.
Macbeth). -- Cervantes hat aus dem Stoff seiner Zeit die Geschichte
des Donquixote gebildet, der bis auf diesen Augenblick, ebenso wie
Sancho Pansa, das Ansehn einer mythologischen Person hat. Es sind
hier ewige Mythen. -- Soweit man Goethes Faust aus dem
Fragment, das davon vorhanden ist, beurtheilen kann, so ist dieses
Gedicht nichts anderes als die innerste, reinste Essenz unseres Zeit-
alters: Stoff und Form geschaffen aus dem, was die ganze Zeit in
sich schloß, und selbst dem, womit sie schwanger war oder noch ist.
Daher ist es ein wahrhaft mythologisches Gedicht zu nennen.

Man hat mehrmals in neuerer Zeit den Gedanken gehört, daß
es wohl möglich wäre, aus der Physik -- natürlich, sofern sie spe-
culative Physik ist -- den Stoff einer neuen Mythologie zu nehmen.
Hierüber ist Folgendes zu bemerken.

Erstens, nach dem, was ich so eben bewiesen habe, ist das Grund-
gesetz der modernen Poesie Originalität (in der alten Kunst war
dieß keineswegs in dem Sinn der Fall). Jedes wahrhaft schöpferische
Individuum hat sich selbst seine Mythologie zu schaffen, und es kann
dieß, aus welchem Stoff es nur immer will, geschehen, also vor-
nehmlich auch aus dem einer höheren Physik. Allein diese Mythologie
wird doch durchaus erschaffen, nicht etwa bloß nach Anleitung ge-
wisser Ideen der Philosophie entworfen werden dürfen; denn in diesem
Fall möchte es unmöglich seyn, ihr ein unabhängiges poetisches Leben
zu geben.

Käme es nur überhaupt darauf an, Ideen der Philosophie oder
höheren Physik durch mythologische Gestalten zu symbolisiren, so finden
sich diese sämmtlich schon in der griechischen Mythologie, so daß ich
mich anheischig machen will, die ganze Naturphilosophie in Symbolen

hiſtoriſchen Stoff ſeiner Nationalgeſchichte, ſondern auch aus den Sitten
ſeiner Zeit und ſeines Volkes. Es iſt in Shakeſpeare, der großen
Mannichfaltigkeit ſeiner Werke unerachtet, dennoch Eine Welt; überall
ſchaut man ihn als einen und denſelben an, und iſt man bis auf die
Grundanſchauung von ihm durchgedrungen, ſo findet man ſich in jedem
ſeiner Werke gleich wieder auf dem ihm eignen Boden (Falſtaff. Lear.
Macbeth). — Cervantes hat aus dem Stoff ſeiner Zeit die Geſchichte
des Donquixote gebildet, der bis auf dieſen Augenblick, ebenſo wie
Sancho Panſa, das Anſehn einer mythologiſchen Perſon hat. Es ſind
hier ewige Mythen. — Soweit man Goethes Fauſt aus dem
Fragment, das davon vorhanden iſt, beurtheilen kann, ſo iſt dieſes
Gedicht nichts anderes als die innerſte, reinſte Eſſenz unſeres Zeit-
alters: Stoff und Form geſchaffen aus dem, was die ganze Zeit in
ſich ſchloß, und ſelbſt dem, womit ſie ſchwanger war oder noch iſt.
Daher iſt es ein wahrhaft mythologiſches Gedicht zu nennen.

Man hat mehrmals in neuerer Zeit den Gedanken gehört, daß
es wohl möglich wäre, aus der Phyſik — natürlich, ſofern ſie ſpe-
culative Phyſik iſt — den Stoff einer neuen Mythologie zu nehmen.
Hierüber iſt Folgendes zu bemerken.

Erſtens, nach dem, was ich ſo eben bewieſen habe, iſt das Grund-
geſetz der modernen Poeſie Originalität (in der alten Kunſt war
dieß keineswegs in dem Sinn der Fall). Jedes wahrhaft ſchöpferiſche
Individuum hat ſich ſelbſt ſeine Mythologie zu ſchaffen, und es kann
dieß, aus welchem Stoff es nur immer will, geſchehen, alſo vor-
nehmlich auch aus dem einer höheren Phyſik. Allein dieſe Mythologie
wird doch durchaus erſchaffen, nicht etwa bloß nach Anleitung ge-
wiſſer Ideen der Philoſophie entworfen werden dürfen; denn in dieſem
Fall möchte es unmöglich ſeyn, ihr ein unabhängiges poetiſches Leben
zu geben.

Käme es nur überhaupt darauf an, Ideen der Philoſophie oder
höheren Phyſik durch mythologiſche Geſtalten zu ſymboliſiren, ſo finden
ſich dieſe ſämmtlich ſchon in der griechiſchen Mythologie, ſo daß ich
mich anheiſchig machen will, die ganze Naturphiloſophie in Symbolen

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[446/0122] hiſtoriſchen Stoff ſeiner Nationalgeſchichte, ſondern auch aus den Sitten ſeiner Zeit und ſeines Volkes. Es iſt in Shakeſpeare, der großen Mannichfaltigkeit ſeiner Werke unerachtet, dennoch Eine Welt; überall ſchaut man ihn als einen und denſelben an, und iſt man bis auf die Grundanſchauung von ihm durchgedrungen, ſo findet man ſich in jedem ſeiner Werke gleich wieder auf dem ihm eignen Boden (Falſtaff. Lear. Macbeth). — Cervantes hat aus dem Stoff ſeiner Zeit die Geſchichte des Donquixote gebildet, der bis auf dieſen Augenblick, ebenſo wie Sancho Panſa, das Anſehn einer mythologiſchen Perſon hat. Es ſind hier ewige Mythen. — Soweit man Goethes Fauſt aus dem Fragment, das davon vorhanden iſt, beurtheilen kann, ſo iſt dieſes Gedicht nichts anderes als die innerſte, reinſte Eſſenz unſeres Zeit- alters: Stoff und Form geſchaffen aus dem, was die ganze Zeit in ſich ſchloß, und ſelbſt dem, womit ſie ſchwanger war oder noch iſt. Daher iſt es ein wahrhaft mythologiſches Gedicht zu nennen. Man hat mehrmals in neuerer Zeit den Gedanken gehört, daß es wohl möglich wäre, aus der Phyſik — natürlich, ſofern ſie ſpe- culative Phyſik iſt — den Stoff einer neuen Mythologie zu nehmen. Hierüber iſt Folgendes zu bemerken. Erſtens, nach dem, was ich ſo eben bewieſen habe, iſt das Grund- geſetz der modernen Poeſie Originalität (in der alten Kunſt war dieß keineswegs in dem Sinn der Fall). Jedes wahrhaft ſchöpferiſche Individuum hat ſich ſelbſt ſeine Mythologie zu ſchaffen, und es kann dieß, aus welchem Stoff es nur immer will, geſchehen, alſo vor- nehmlich auch aus dem einer höheren Phyſik. Allein dieſe Mythologie wird doch durchaus erſchaffen, nicht etwa bloß nach Anleitung ge- wiſſer Ideen der Philoſophie entworfen werden dürfen; denn in dieſem Fall möchte es unmöglich ſeyn, ihr ein unabhängiges poetiſches Leben zu geben. Käme es nur überhaupt darauf an, Ideen der Philoſophie oder höheren Phyſik durch mythologiſche Geſtalten zu ſymboliſiren, ſo finden ſich dieſe ſämmtlich ſchon in der griechiſchen Mythologie, ſo daß ich mich anheiſchig machen will, die ganze Naturphiloſophie in Symbolen

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/122>, abgerufen am 27.11.2024.