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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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romantisch-epischen und dramatischen Werken der neueren Welt können
wir erst in der Folge vollständiger darstellen.

Aber eben auch dieses ist Gegenstand der modernen Welt, daß
alles Endliche in ihr vergänglich ist, und das Absolute in unendlicher
Ferne liegt. Alles ist hier dem Gesetz des Unendlichen untergeordnet.
Nach diesem Gesetz hat sich auch zwischen die Kunstwelt im Katholicis-
mus und die gegenwärtige Zeit wieder eine neue Masse geworfen.
Der Protestantismus entstand und war historisch nothwendig. Preis
den Heroen, welche zu jener Zeit, für einige Theile der Welt wenig-
stens, die Freiheit des Denkens und der Erfindung auf ewig befestigten!
Das Princip, das sie weckten, war in der That neu beseelend, und
konnte, verbunden mit dem Geist des klassischen Alterthums, unendliche
Wirkungen hervorbringen, da es in der That seiner Natur nach un-
endlich war, keine Schranke erkennend, wenn nicht durch das Unglück
der Zeit aufs neue gehemmt. Aber die nur zu bald eintretende Folge
der Reformation war, daß an die Stelle der alten Autorität eine neue,
prosaische, buchstäbliche trat. Die ersten Reformatoren selbst wurden
noch von den Wirkungen der Freiheit, die sie gepredigt hatten, über-
rascht. Diese Sklaverei des Buchstabens konnte noch weniger dauern;
aber der Protestantismus konnte nie dazu gelangen, sich eine äußerliche
und wahrhaft objektive und endliche Gestalt zu geben. Nicht nur, daß er
selbst wieder in Sekten zerfiel, sondern, was in ihm nur Zurücknahme
der ewigen Rechte des menschlichen Geistes war, wurde zu einem
gänzlich zerstörenden Princip für die Religion und mittelbar für die
Poesie. Es entstand jene Erhebung des gemeinen Menschenverstandes,
des Werkzeugs bloß weltlicher Angelegenheiten, zum Urtheil über geistliche
Angelegenheiten. Höchster Repräsentant dieses Menschenverstandes --
Voltaire. Eine trübere und unlustigere Freidenkerei entwickelte sich in
England. Die deutschen Theologen machten die Synthesis. Ohne
es mit dem Christenthum oder der Aufklärung verderben zu wollen,
stifteten sie zwischen beiden ein Wechselbündniß, wo die Aufklärung ver-
sprach die Religion zu erhalten, wenn sie sich auch nützlich machen
wollte.

romantiſch-epiſchen und dramatiſchen Werken der neueren Welt können
wir erſt in der Folge vollſtändiger darſtellen.

Aber eben auch dieſes iſt Gegenſtand der modernen Welt, daß
alles Endliche in ihr vergänglich iſt, und das Abſolute in unendlicher
Ferne liegt. Alles iſt hier dem Geſetz des Unendlichen untergeordnet.
Nach dieſem Geſetz hat ſich auch zwiſchen die Kunſtwelt im Katholicis-
mus und die gegenwärtige Zeit wieder eine neue Maſſe geworfen.
Der Proteſtantismus entſtand und war hiſtoriſch nothwendig. Preis
den Heroen, welche zu jener Zeit, für einige Theile der Welt wenig-
ſtens, die Freiheit des Denkens und der Erfindung auf ewig befeſtigten!
Das Princip, das ſie weckten, war in der That neu beſeelend, und
konnte, verbunden mit dem Geiſt des klaſſiſchen Alterthums, unendliche
Wirkungen hervorbringen, da es in der That ſeiner Natur nach un-
endlich war, keine Schranke erkennend, wenn nicht durch das Unglück
der Zeit aufs neue gehemmt. Aber die nur zu bald eintretende Folge
der Reformation war, daß an die Stelle der alten Autorität eine neue,
proſaiſche, buchſtäbliche trat. Die erſten Reformatoren ſelbſt wurden
noch von den Wirkungen der Freiheit, die ſie gepredigt hatten, über-
raſcht. Dieſe Sklaverei des Buchſtabens konnte noch weniger dauern;
aber der Proteſtantismus konnte nie dazu gelangen, ſich eine äußerliche
und wahrhaft objektive und endliche Geſtalt zu geben. Nicht nur, daß er
ſelbſt wieder in Sekten zerfiel, ſondern, was in ihm nur Zurücknahme
der ewigen Rechte des menſchlichen Geiſtes war, wurde zu einem
gänzlich zerſtörenden Princip für die Religion und mittelbar für die
Poeſie. Es entſtand jene Erhebung des gemeinen Menſchenverſtandes,
des Werkzeugs bloß weltlicher Angelegenheiten, zum Urtheil über geiſtliche
Angelegenheiten. Höchſter Repräſentant dieſes Menſchenverſtandes —
Voltaire. Eine trübere und unluſtigere Freidenkerei entwickelte ſich in
England. Die deutſchen Theologen machten die Syntheſis. Ohne
es mit dem Chriſtenthum oder der Aufklärung verderben zu wollen,
ſtifteten ſie zwiſchen beiden ein Wechſelbündniß, wo die Aufklärung ver-
ſprach die Religion zu erhalten, wenn ſie ſich auch nützlich machen
wollte.

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[440/0116] romantiſch-epiſchen und dramatiſchen Werken der neueren Welt können wir erſt in der Folge vollſtändiger darſtellen. Aber eben auch dieſes iſt Gegenſtand der modernen Welt, daß alles Endliche in ihr vergänglich iſt, und das Abſolute in unendlicher Ferne liegt. Alles iſt hier dem Geſetz des Unendlichen untergeordnet. Nach dieſem Geſetz hat ſich auch zwiſchen die Kunſtwelt im Katholicis- mus und die gegenwärtige Zeit wieder eine neue Maſſe geworfen. Der Proteſtantismus entſtand und war hiſtoriſch nothwendig. Preis den Heroen, welche zu jener Zeit, für einige Theile der Welt wenig- ſtens, die Freiheit des Denkens und der Erfindung auf ewig befeſtigten! Das Princip, das ſie weckten, war in der That neu beſeelend, und konnte, verbunden mit dem Geiſt des klaſſiſchen Alterthums, unendliche Wirkungen hervorbringen, da es in der That ſeiner Natur nach un- endlich war, keine Schranke erkennend, wenn nicht durch das Unglück der Zeit aufs neue gehemmt. Aber die nur zu bald eintretende Folge der Reformation war, daß an die Stelle der alten Autorität eine neue, proſaiſche, buchſtäbliche trat. Die erſten Reformatoren ſelbſt wurden noch von den Wirkungen der Freiheit, die ſie gepredigt hatten, über- raſcht. Dieſe Sklaverei des Buchſtabens konnte noch weniger dauern; aber der Proteſtantismus konnte nie dazu gelangen, ſich eine äußerliche und wahrhaft objektive und endliche Geſtalt zu geben. Nicht nur, daß er ſelbſt wieder in Sekten zerfiel, ſondern, was in ihm nur Zurücknahme der ewigen Rechte des menſchlichen Geiſtes war, wurde zu einem gänzlich zerſtörenden Princip für die Religion und mittelbar für die Poeſie. Es entſtand jene Erhebung des gemeinen Menſchenverſtandes, des Werkzeugs bloß weltlicher Angelegenheiten, zum Urtheil über geiſtliche Angelegenheiten. Höchſter Repräſentant dieſes Menſchenverſtandes — Voltaire. Eine trübere und unluſtigere Freidenkerei entwickelte ſich in England. Die deutſchen Theologen machten die Syntheſis. Ohne es mit dem Chriſtenthum oder der Aufklärung verderben zu wollen, ſtifteten ſie zwiſchen beiden ein Wechſelbündniß, wo die Aufklärung ver- ſprach die Religion zu erhalten, wenn ſie ſich auch nützlich machen wollte.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/116>, abgerufen am 27.11.2024.