wäre ihnen nicht durch ihre Religion alle bildende Kunst als Plastik versagt gewesen. Man wird den Geist ihrer Religion, ihrer Gebräuche und Poesie am besten fassen, wenn man als den Grundtypus derselben den Pflanzenorganismus denkt. Die Pflanze ist für sich wieder in der organischen Welt das allegorische Wesen. Farbe und Duft, diese stille Sprache, ist ihr einziges Organ, wodurch sie sich zu erkennen gibt. Dieser Pflanzencharakter spricht sich in ihrer ganzen Bildung aus, na- mentlich z. B. der Architektur (Arabesken); sie ist von den plastischen Künsten die einzige, in der sie es zu einem bedeutenden Grad von Ausbildung gebracht haben. Architektur an sich ist noch eine allegorische Kunst, der das Schema der Pflanze zu Grunde liegt, ganz besonders der indischen, von der man sich des Gedankens kaum erwehren kann, daß sie der gothisch genannten ihren Ursprung gegeben habe (worauf wir später wieder zurückkommen werden).
Wir mögen soweit zurückgehen in der Geschichte menschlicher Bil- dung als wir können, so finden wir schon zwei getrennte Ströme von Poesie, Philosophie und Religion, und der allgemeine Weltgeist offen- bart sich auch auf diese Weise unter den zwei entgegengesetzten Attri- buten, des Idealen und Realen.
Die realistische Mythologie hat ihre Blüthe in der griechischen erreicht, die idealistische sich im Lauf der Zeit ganz in das Christenthum ergossen.
Niemals konnte der Lauf der alten Geschichte so abbrechen, eine wirkliche neue Welt beginnen, die mit dem Christenthum wirklich begonnen hat, ohne einen gleichsam durch das ganze Menschengeschlecht greifenden Abfall.
Die, welche die Dinge nur in der Einzelnheit aufzufassen im Stande sind, mögen es auch in Ansehung des Christenthums so halten. Für einen höheren Gesichtspunkt war es in seinem ersten Entstehen selbst eine bloß einzelne Erscheinung des allgemeinen Geistes, der sich bald der ganzen Welt bemächtigen sollte. Nicht das Christenthum hat den Geist der damaligen Jahrhunderte einseitig erschaffen; es war von diesem allgemeinen Geist zuerst nur eine Aeußerung, war das Erste, was diesen Geist aussprach, und ihn dadurch fixirte.
wäre ihnen nicht durch ihre Religion alle bildende Kunſt als Plaſtik verſagt geweſen. Man wird den Geiſt ihrer Religion, ihrer Gebräuche und Poeſie am beſten faſſen, wenn man als den Grundtypus derſelben den Pflanzenorganismus denkt. Die Pflanze iſt für ſich wieder in der organiſchen Welt das allegoriſche Weſen. Farbe und Duft, dieſe ſtille Sprache, iſt ihr einziges Organ, wodurch ſie ſich zu erkennen gibt. Dieſer Pflanzencharakter ſpricht ſich in ihrer ganzen Bildung aus, na- mentlich z. B. der Architektur (Arabesken); ſie iſt von den plaſtiſchen Künſten die einzige, in der ſie es zu einem bedeutenden Grad von Ausbildung gebracht haben. Architektur an ſich iſt noch eine allegoriſche Kunſt, der das Schema der Pflanze zu Grunde liegt, ganz beſonders der indiſchen, von der man ſich des Gedankens kaum erwehren kann, daß ſie der gothiſch genannten ihren Urſprung gegeben habe (worauf wir ſpäter wieder zurückkommen werden).
Wir mögen ſoweit zurückgehen in der Geſchichte menſchlicher Bil- dung als wir können, ſo finden wir ſchon zwei getrennte Ströme von Poeſie, Philoſophie und Religion, und der allgemeine Weltgeiſt offen- bart ſich auch auf dieſe Weiſe unter den zwei entgegengeſetzten Attri- buten, des Idealen und Realen.
Die realiſtiſche Mythologie hat ihre Blüthe in der griechiſchen erreicht, die idealiſtiſche ſich im Lauf der Zeit ganz in das Chriſtenthum ergoſſen.
Niemals konnte der Lauf der alten Geſchichte ſo abbrechen, eine wirkliche neue Welt beginnen, die mit dem Chriſtenthum wirklich begonnen hat, ohne einen gleichſam durch das ganze Menſchengeſchlecht greifenden Abfall.
Die, welche die Dinge nur in der Einzelnheit aufzufaſſen im Stande ſind, mögen es auch in Anſehung des Chriſtenthums ſo halten. Für einen höheren Geſichtspunkt war es in ſeinem erſten Entſtehen ſelbſt eine bloß einzelne Erſcheinung des allgemeinen Geiſtes, der ſich bald der ganzen Welt bemächtigen ſollte. Nicht das Chriſtenthum hat den Geiſt der damaligen Jahrhunderte einſeitig erſchaffen; es war von dieſem allgemeinen Geiſt zuerſt nur eine Aeußerung, war das Erſte, was dieſen Geiſt ausſprach, und ihn dadurch fixirte.
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wäre ihnen nicht durch ihre Religion alle bildende Kunſt als Plaſtik
verſagt geweſen. Man wird den Geiſt ihrer Religion, ihrer Gebräuche
und Poeſie am beſten faſſen, wenn man als den Grundtypus derſelben
den Pflanzenorganismus denkt. Die Pflanze iſt für ſich wieder in der
organiſchen Welt das allegoriſche Weſen. Farbe und Duft, dieſe ſtille
Sprache, iſt ihr einziges Organ, wodurch ſie ſich zu erkennen gibt.
Dieſer Pflanzencharakter ſpricht ſich in ihrer ganzen Bildung aus, na-
mentlich z. B. der Architektur (Arabesken); ſie iſt von den plaſtiſchen
Künſten die einzige, in der ſie es zu einem bedeutenden Grad von
Ausbildung gebracht haben. Architektur an ſich iſt noch eine allegoriſche
Kunſt, der das Schema der Pflanze zu Grunde liegt, ganz beſonders
der indiſchen, von der man ſich des Gedankens kaum erwehren kann,
daß ſie der gothiſch genannten ihren Urſprung gegeben habe (worauf
wir ſpäter wieder zurückkommen werden).
Wir mögen ſoweit zurückgehen in der Geſchichte menſchlicher Bil-
dung als wir können, ſo finden wir ſchon zwei getrennte Ströme von
Poeſie, Philoſophie und Religion, und der allgemeine Weltgeiſt offen-
bart ſich auch auf dieſe Weiſe unter den zwei entgegengeſetzten Attri-
buten, des Idealen und Realen.
Die realiſtiſche Mythologie hat ihre Blüthe in der griechiſchen erreicht,
die idealiſtiſche ſich im Lauf der Zeit ganz in das Chriſtenthum ergoſſen.
Niemals konnte der Lauf der alten Geſchichte ſo abbrechen, eine
wirkliche neue Welt beginnen, die mit dem Chriſtenthum wirklich begonnen
hat, ohne einen gleichſam durch das ganze Menſchengeſchlecht greifenden
Abfall.
Die, welche die Dinge nur in der Einzelnheit aufzufaſſen im
Stande ſind, mögen es auch in Anſehung des Chriſtenthums ſo halten.
Für einen höheren Geſichtspunkt war es in ſeinem erſten Entſtehen
ſelbſt eine bloß einzelne Erſcheinung des allgemeinen Geiſtes, der
ſich bald der ganzen Welt bemächtigen ſollte. Nicht das Chriſtenthum
hat den Geiſt der damaligen Jahrhunderte einſeitig erſchaffen; es war
von dieſem allgemeinen Geiſt zuerſt nur eine Aeußerung, war das
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/100>, abgerufen am 22.11.2024.
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