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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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"Jahre durchlebt haben, heißt also: in den
"meisten Fällen philosophirt haben. Möch-
"ten doch unsre Zeitgenossen weniger daran
"denken, geschwind und vielgewinnend, als
"gemeinnützig und durch freye Entsagung
"still verdienend zu leben."
-- Wohl aber sind
ich darin eine durch nichts vergütete Unan-
nehmlichkeit, die im Ueberleben alles dessen
und aller derer besteht, wodurch und mit
denen man das Leben eigentlich genossen hat.
Als vor einigen Jahren der Herr Buch-
händler Wagner starb, mit dem ich über
30 Jahre in mancherley Verkehr gestanden,
ohne daß er eben meinem Herzen wichtig
geworden war, so wollte mir sein Verlust
dennoch recht lange nicht aus dem Sinn;
das, was man noch erleben kann, scheint gar
keinen wahren Ersatz für das verlorne Er-
lebte abgeben zu können. Als ich den 18.
März 1806 das Hündchen verlor, mit dem
ich, der die Hunde seit seinem 40sten Jahr
sehr geliebt hat, funfzehn Jahr, ungeach-
tet seiner wunderlichen Laune, die ihm nicht
erlaubte, sich mit den Häuslingen, oft selbst
nicht mit mir vertraut zu machen, gelebt
hatte, wie viele Monate wandten sich nicht

„Jahre durchlebt haben, heißt alſo: in den
„meiſten Faͤllen philoſophirt haben. Moͤch-
„ten doch unſre Zeitgenoſſen weniger daran
„denken, geſchwind und vielgewinnend, als
„gemeinnuͤtzig und durch freye Entſagung
„ſtill verdienend zu leben.“
— Wohl aber ſind
ich darin eine durch nichts verguͤtete Unan-
nehmlichkeit, die im Ueberleben alles deſſen
und aller derer beſteht, wodurch und mit
denen man das Leben eigentlich genoſſen hat.
Als vor einigen Jahren der Herr Buch-
haͤndler Wagner ſtarb, mit dem ich uͤber
30 Jahre in mancherley Verkehr geſtanden,
ohne daß er eben meinem Herzen wichtig
geworden war, ſo wollte mir ſein Verluſt
dennoch recht lange nicht aus dem Sinn;
das, was man noch erleben kann, ſcheint gar
keinen wahren Erſatz fuͤr das verlorne Er-
lebte abgeben zu koͤnnen. Als ich den 18.
Maͤrz 1806 das Huͤndchen verlor, mit dem
ich, der die Hunde ſeit ſeinem 40ſten Jahr
ſehr geliebt hat, funfzehn Jahr, ungeach-
tet ſeiner wunderlichen Laune, die ihm nicht
erlaubte, ſich mit den Haͤuslingen, oft ſelbſt
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[381/0398] „Jahre durchlebt haben, heißt alſo: in den „meiſten Faͤllen philoſophirt haben. Moͤch- „ten doch unſre Zeitgenoſſen weniger daran „denken, geſchwind und vielgewinnend, als „gemeinnuͤtzig und durch freye Entſagung „ſtill verdienend zu leben.“ — Wohl aber ſind ich darin eine durch nichts verguͤtete Unan- nehmlichkeit, die im Ueberleben alles deſſen und aller derer beſteht, wodurch und mit denen man das Leben eigentlich genoſſen hat. Als vor einigen Jahren der Herr Buch- haͤndler Wagner ſtarb, mit dem ich uͤber 30 Jahre in mancherley Verkehr geſtanden, ohne daß er eben meinem Herzen wichtig geworden war, ſo wollte mir ſein Verluſt dennoch recht lange nicht aus dem Sinn; das, was man noch erleben kann, ſcheint gar keinen wahren Erſatz fuͤr das verlorne Er- lebte abgeben zu koͤnnen. Als ich den 18. Maͤrz 1806 das Huͤndchen verlor, mit dem ich, der die Hunde ſeit ſeinem 40ſten Jahr ſehr geliebt hat, funfzehn Jahr, ungeach- tet ſeiner wunderlichen Laune, die ihm nicht erlaubte, ſich mit den Haͤuslingen, oft ſelbſt nicht mit mir vertraut zu machen, gelebt hatte, wie viele Monate wandten ſich nicht

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/398>, abgerufen am 25.11.2024.