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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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"rentheils klüger, wie wir alle, nur er hat
"nicht Willen genug, es selbst zu seyn, und
"läßt uns in der Meinungsverschiedenheit
"sitzen"
-- -- wer wird sich nicht ärgern

"den Winter in Prag zu. Sie finden bey ihm
"eine sehr bedeutende Unterhaltung. Er hat ei-
"nen scharfen, strengen Geist und Charakter, und
"doch zugleich ein Wohlwollen in sich, welches
"jede Volksklasse der bürgerlichen Gesellschaft be-
"glücken möchte. Dieß an ihm wahrzunehmen,
"freute mich um so mehr, weil er auf alten Adel,
"seines Geschlechts, viel hielt. Jch möchte wohl
"sagen, er hat in seinen Tugenden einen ritter-
"lichen Sinn, in seinen Begriffen und Neigungen
"Freyheit und Trieb eines Britten. Aus der eng-
"lischen Literatur scheint er mir vorzüglich seine
"Cultur hergeholt zu haben. Die Staatswissen-
"schaft ist bey ihm zur Gemüthssache geworden,
"und giebt ihm eine solche Befriedigung, daß ich
"an seiner so lebendigen Natur keine vorzügliche
"Empfänglichkeit für die schöne Kunst bemerkte.
"Man sollte darum glauben, daß er das entge-
"gengesetzte Extrem von Göthe sey, und gleich-
"wohl hat er mich an diesen erinnert. Solchen
"Eindruck zu entziffern, hab ich hin und her ge-
"dacht, und zuletzt fand ich doch keinen Aufschluß,
"als die Vermuthung, ihre Aehnlicheit komme
"von der Gewandtheit, mit welcher Göthe die
"Kunst und das Leben als Stoff für den Künst-
"ler praktisch, Stein aber als Geschäftsmann
"die Wissenschaft und ihre Entdeckungen für das

„rentheils kluͤger, wie wir alle, nur er hat
„nicht Willen genug, es ſelbſt zu ſeyn, und
„laͤßt uns in der Meinungsverſchiedenheit
„ſitzen“
— — wer wird ſich nicht aͤrgern

„den Winter in Prag zu. Sie finden bey ihm
„eine ſehr bedeutende Unterhaltung. Er hat ei-
„nen ſcharfen, ſtrengen Geiſt und Charakter, und
„doch zugleich ein Wohlwollen in ſich, welches
„jede Volksklaſſe der buͤrgerlichen Geſellſchaft be-
„gluͤcken moͤchte. Dieß an ihm wahrzunehmen,
„freute mich um ſo mehr, weil er auf alten Adel,
„ſeines Geſchlechts, viel hielt. Jch moͤchte wohl
„ſagen, er hat in ſeinen Tugenden einen ritter-
„lichen Sinn, in ſeinen Begriffen und Neigungen
„Freyheit und Trieb eines Britten. Aus der eng-
„liſchen Literatur ſcheint er mir vorzuͤglich ſeine
„Cultur hergeholt zu haben. Die Staatswiſſen-
„ſchaft iſt bey ihm zur Gemuͤthsſache geworden,
„und giebt ihm eine ſolche Befriedigung, daß ich
„an ſeiner ſo lebendigen Natur keine vorzuͤgliche
„Empfaͤnglichkeit fuͤr die ſchoͤne Kunſt bemerkte.
„Man ſollte darum glauben, daß er das entge-
„gengeſetzte Extrem von Goͤthe ſey, und gleich-
„wohl hat er mich an dieſen erinnert. Solchen
„Eindruck zu entziffern, hab ich hin und her ge-
„dacht, und zuletzt fand ich doch keinen Aufſchluß,
„als die Vermuthung, ihre Aehnlicheit komme
„von der Gewandtheit, mit welcher Goͤthe die
„Kunſt und das Leben als Stoff fuͤr den Kuͤnſt-
„ler praktiſch, Stein aber als Geſchaͤftsmann
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[285/0302] „rentheils kluͤger, wie wir alle, nur er hat „nicht Willen genug, es ſelbſt zu ſeyn, und „laͤßt uns in der Meinungsverſchiedenheit „ſitzen“ — — wer wird ſich nicht aͤrgern *) *) „den Winter in Prag zu. Sie finden bey ihm „eine ſehr bedeutende Unterhaltung. Er hat ei- „nen ſcharfen, ſtrengen Geiſt und Charakter, und „doch zugleich ein Wohlwollen in ſich, welches „jede Volksklaſſe der buͤrgerlichen Geſellſchaft be- „gluͤcken moͤchte. Dieß an ihm wahrzunehmen, „freute mich um ſo mehr, weil er auf alten Adel, „ſeines Geſchlechts, viel hielt. Jch moͤchte wohl „ſagen, er hat in ſeinen Tugenden einen ritter- „lichen Sinn, in ſeinen Begriffen und Neigungen „Freyheit und Trieb eines Britten. Aus der eng- „liſchen Literatur ſcheint er mir vorzuͤglich ſeine „Cultur hergeholt zu haben. Die Staatswiſſen- „ſchaft iſt bey ihm zur Gemuͤthsſache geworden, „und giebt ihm eine ſolche Befriedigung, daß ich „an ſeiner ſo lebendigen Natur keine vorzuͤgliche „Empfaͤnglichkeit fuͤr die ſchoͤne Kunſt bemerkte. „Man ſollte darum glauben, daß er das entge- „gengeſetzte Extrem von Goͤthe ſey, und gleich- „wohl hat er mich an dieſen erinnert. Solchen „Eindruck zu entziffern, hab ich hin und her ge- „dacht, und zuletzt fand ich doch keinen Aufſchluß, „als die Vermuthung, ihre Aehnlicheit komme „von der Gewandtheit, mit welcher Goͤthe die „Kunſt und das Leben als Stoff fuͤr den Kuͤnſt- „ler praktiſch, Stein aber als Geſchaͤftsmann „die Wiſſenſchaft und ihre Entdeckungen fuͤr das

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/302>, abgerufen am 22.11.2024.