war in allen Mienen und Stellungen dieses die ganze Welt vergessenden Menschen so lebhaft ausgedrückt, daß mir sein Gesicht noch jetzt vorschwebt, und hätt' ihn ein ge- schickter Künstler treu portraitirt, man würde das Gemälde für ein Bußideal erklärt ha- ben.
Die schöne Jahreszeit benutzte ich fleißig zu einsamen Lustwandlungen, besonders nach dem Jäschkenthal, wo ich im abgesonderte- sten Gartenwinkel meinen Kaffee trank und unter mahlerisch gewachsenen Bäumen den Petrarca las. Für den Dichter ist es mei- nes Erachtens Pflicht, den Leser so viel als möglich aus der wirklichen Welt in die idea- lische zu führen, beym Lesen der Dichter hat es aber oft mein Vergnügen erhöht, wenn ich ihr Jdealisches mir so zu sagen geschichtlich machen und denken, und auf ein tout comme ches nous zurückführen konnte.
Dieß wiederfuhr mir mit dem Petrarca, seitdem ich die Memoires pour la vie de Petrarque vom Abt Sades sorgfältig ge- lesen hatte. Es läßt sich hieraus auch das höhere Vergnügen bey Lesung eines Gedichts auf seiner Stelle erklären, von dem die
war in allen Mienen und Stellungen dieſes die ganze Welt vergeſſenden Menſchen ſo lebhaft ausgedruͤckt, daß mir ſein Geſicht noch jetzt vorſchwebt, und haͤtt’ ihn ein ge- ſchickter Kuͤnſtler treu portraitirt, man wuͤrde das Gemaͤlde fuͤr ein Bußideal erklaͤrt ha- ben.
Die ſchoͤne Jahreszeit benutzte ich fleißig zu einſamen Luſtwandlungen, beſonders nach dem Jaͤſchkenthal, wo ich im abgeſonderte- ſten Gartenwinkel meinen Kaffee trank und unter mahleriſch gewachſenen Baͤumen den Petrarca las. Fuͤr den Dichter iſt es mei- nes Erachtens Pflicht, den Leſer ſo viel als moͤglich aus der wirklichen Welt in die idea- liſche zu fuͤhren, beym Leſen der Dichter hat es aber oft mein Vergnuͤgen erhoͤht, wenn ich ihr Jdealiſches mir ſo zu ſagen geſchichtlich machen und denken, und auf ein tout comme chés nous zuruͤckfuͤhren konnte.
Dieß wiederfuhr mir mit dem Petrarca, ſeitdem ich die Memoires pour la vie de Petrarque vom Abt Sades ſorgfaͤltig ge- leſen hatte. Es laͤßt ſich hieraus auch das hoͤhere Vergnuͤgen bey Leſung eines Gedichts auf ſeiner Stelle erklaͤren, von dem die
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war in allen Mienen und Stellungen dieſes
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lebhaft ausgedruͤckt, daß mir ſein Geſicht
noch jetzt vorſchwebt, und haͤtt’ ihn ein ge-
ſchickter Kuͤnſtler treu portraitirt, man wuͤrde
das Gemaͤlde fuͤr ein Bußideal erklaͤrt ha-
ben.
Die ſchoͤne Jahreszeit benutzte ich fleißig
zu einſamen Luſtwandlungen, beſonders nach
dem Jaͤſchkenthal, wo ich im abgeſonderte-
ſten Gartenwinkel meinen Kaffee trank und
unter mahleriſch gewachſenen Baͤumen den
Petrarca las. Fuͤr den Dichter iſt es mei-
nes Erachtens Pflicht, den Leſer ſo viel als
moͤglich aus der wirklichen Welt in die idea-
liſche zu fuͤhren, beym Leſen der Dichter
hat es aber oft mein Vergnuͤgen erhoͤht,
wenn ich ihr Jdealiſches mir ſo zu ſagen
geſchichtlich machen und denken, und auf
ein tout comme chés nous zuruͤckfuͤhren
konnte.
Dieß wiederfuhr mir mit dem Petrarca,
ſeitdem ich die Memoires pour la vie de
Petrarque vom Abt Sades ſorgfaͤltig ge-
leſen hatte. Es laͤßt ſich hieraus auch das
hoͤhere Vergnuͤgen bey Leſung eines Gedichts
auf ſeiner Stelle erklaͤren, von dem die
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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/188>, abgerufen am 27.11.2024.
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