Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Verließ und schüttete ihn in Mitten des Gemaches aus, als wäre das
Alles, was von des Gefangenen sterblichem Theil übrig geblieben.

Warum schnarchest du so stark, Hochachtbarer? sprach sie und
enteilte.



Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Auf dem Wildkirchlein.


Jetzund, vieltheurer Leser, umgürte deine Lenden, greif' zum
Wanderstab und fahr' mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des
Bodensees zieht unsere Geschichte in's helvetische Alpenland hinüber:
dort ragt der hohe Säntis vergnüglich in die Himmelsbläue, wenn
er just nicht vorzieht, die Nebelkappe um's Haupt zu hüllen, und
schaut lächelnd in die Tiefen, wo der Menschen Städte zu eines
Ameisenhaufens Größe zusammenschrumpfen; und um ihn steht eine
Landsgemeinde stolzer Gesellen versammelt, von gleichem Schrot und
Korn, die recken ihre kahlen Scheitel einander entgegen und blasen
sich Nebelwolken zu, ein Rauschen und Sausen zieht durch ihre
Schlüfte und was sie über menschliches Dichten und Treiben sich zu-
flüstern, klang vor tausend Jahren schon ziemlich verächtlich und hat
sich seither nicht um Vieles gebessert.

Ohngefähr zehn Tage nachdem die Mönche der Reichenau im hohen-
twieler Burgthurm an Stelle eines Gefangenen ein Häufchen Asche
vorgefunden und viel Verhandlung gepflogen hatten, ob ihn in böser
Mitternacht der Teufel bewältigt und zu Asche verbrannt, oder ob er
entwichen sei, schritt ein Mann längs dem weißgrünschäumenden
Sitterbach über sprießende Matten und Felsgestein bergaufwärts.

Er trug einen Mantel aus Wolfsfell über ein mönchisch Gewand,
eine lederne Tasche umgeschlagen, in der Rechten einen Speer. Oft-
mals stieß er die eherne Spitze in's Erdreich und stemmte sich am
Schaft, die Waffe als Bergstock nutzend.

Verließ und ſchüttete ihn in Mitten des Gemaches aus, als wäre das
Alles, was von des Gefangenen ſterblichem Theil übrig geblieben.

Warum ſchnarcheſt du ſo ſtark, Hochachtbarer? ſprach ſie und
enteilte.



Zweiundzwanzigſtes Kapitel.
Auf dem Wildkirchlein.


Jetzund, vieltheurer Leſer, umgürte deine Lenden, greif' zum
Wanderſtab und fahr' mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des
Bodenſees zieht unſere Geſchichte in's helvetiſche Alpenland hinüber:
dort ragt der hohe Säntis vergnüglich in die Himmelsbläue, wenn
er juſt nicht vorzieht, die Nebelkappe um's Haupt zu hüllen, und
ſchaut lächelnd in die Tiefen, wo der Menſchen Städte zu eines
Ameiſenhaufens Größe zuſammenſchrumpfen; und um ihn ſteht eine
Landsgemeinde ſtolzer Geſellen verſammelt, von gleichem Schrot und
Korn, die recken ihre kahlen Scheitel einander entgegen und blaſen
ſich Nebelwolken zu, ein Rauſchen und Sauſen zieht durch ihre
Schlüfte und was ſie über menſchliches Dichten und Treiben ſich zu-
flüſtern, klang vor tauſend Jahren ſchon ziemlich verächtlich und hat
ſich ſeither nicht um Vieles gebeſſert.

Ohngefähr zehn Tage nachdem die Mönche der Reichenau im hohen-
twieler Burgthurm an Stelle eines Gefangenen ein Häufchen Aſche
vorgefunden und viel Verhandlung gepflogen hatten, ob ihn in böſer
Mitternacht der Teufel bewältigt und zu Aſche verbrannt, oder ob er
entwichen ſei, ſchritt ein Mann längs dem weißgrünſchäumenden
Sitterbach über ſprießende Matten und Felsgeſtein bergaufwärts.

Er trug einen Mantel aus Wolfsfell über ein mönchiſch Gewand,
eine lederne Taſche umgeſchlagen, in der Rechten einen Speer. Oft-
mals ſtieß er die eherne Spitze in's Erdreich und ſtemmte ſich am
Schaft, die Waffe als Bergſtock nutzend.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0339" n="317"/>
Verließ und &#x017F;chüttete ihn in Mitten des Gemaches aus, als wäre das<lb/>
Alles, was von des Gefangenen &#x017F;terblichem Theil übrig geblieben.</p><lb/>
        <p>Warum &#x017F;chnarche&#x017F;t du &#x017F;o &#x017F;tark, Hochachtbarer? &#x017F;prach &#x017F;ie und<lb/>
enteilte.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Zweiundzwanzig&#x017F;tes Kapitel</hi>.<lb/>
Auf dem Wildkirchlein.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Jetzund, vieltheurer Le&#x017F;er, umgürte deine Lenden, greif' zum<lb/>
Wander&#x017F;tab und fahr' mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des<lb/>
Boden&#x017F;ees zieht un&#x017F;ere Ge&#x017F;chichte in's helveti&#x017F;che Alpenland hinüber:<lb/>
dort ragt der hohe Säntis vergnüglich in die Himmelsbläue, wenn<lb/>
er ju&#x017F;t nicht vorzieht, die Nebelkappe um's Haupt zu hüllen, und<lb/>
&#x017F;chaut lächelnd in die Tiefen, wo der Men&#x017F;chen Städte zu eines<lb/>
Amei&#x017F;enhaufens Größe zu&#x017F;ammen&#x017F;chrumpfen; und um ihn &#x017F;teht eine<lb/>
Landsgemeinde &#x017F;tolzer Ge&#x017F;ellen ver&#x017F;ammelt, von gleichem Schrot und<lb/>
Korn, die recken ihre kahlen Scheitel einander entgegen und bla&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ich Nebelwolken zu, ein Rau&#x017F;chen und Sau&#x017F;en zieht durch ihre<lb/>
Schlüfte und was &#x017F;ie über men&#x017F;chliches Dichten und Treiben &#x017F;ich zu-<lb/>
flü&#x017F;tern, klang vor tau&#x017F;end Jahren &#x017F;chon ziemlich verächtlich und hat<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;either nicht um Vieles gebe&#x017F;&#x017F;ert.</p><lb/>
        <p>Ohngefähr zehn Tage nachdem die Mönche der Reichenau im hohen-<lb/>
twieler Burgthurm an Stelle eines Gefangenen ein Häufchen A&#x017F;che<lb/>
vorgefunden und viel Verhandlung gepflogen hatten, ob ihn in bö&#x017F;er<lb/>
Mitternacht der Teufel bewältigt und zu A&#x017F;che verbrannt, oder ob er<lb/>
entwichen &#x017F;ei, &#x017F;chritt ein Mann längs dem weißgrün&#x017F;chäumenden<lb/>
Sitterbach über &#x017F;prießende Matten und Felsge&#x017F;tein bergaufwärts.</p><lb/>
        <p>Er trug einen Mantel aus Wolfsfell über ein mönchi&#x017F;ch Gewand,<lb/>
eine lederne Ta&#x017F;che umge&#x017F;chlagen, in der Rechten einen Speer. Oft-<lb/>
mals &#x017F;tieß er die eherne Spitze in's Erdreich und &#x017F;temmte &#x017F;ich am<lb/>
Schaft, die Waffe als Berg&#x017F;tock nutzend.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0339] Verließ und ſchüttete ihn in Mitten des Gemaches aus, als wäre das Alles, was von des Gefangenen ſterblichem Theil übrig geblieben. Warum ſchnarcheſt du ſo ſtark, Hochachtbarer? ſprach ſie und enteilte. Zweiundzwanzigſtes Kapitel. Auf dem Wildkirchlein. Jetzund, vieltheurer Leſer, umgürte deine Lenden, greif' zum Wanderſtab und fahr' mit uns zu Berge. Aus den Niederungen des Bodenſees zieht unſere Geſchichte in's helvetiſche Alpenland hinüber: dort ragt der hohe Säntis vergnüglich in die Himmelsbläue, wenn er juſt nicht vorzieht, die Nebelkappe um's Haupt zu hüllen, und ſchaut lächelnd in die Tiefen, wo der Menſchen Städte zu eines Ameiſenhaufens Größe zuſammenſchrumpfen; und um ihn ſteht eine Landsgemeinde ſtolzer Geſellen verſammelt, von gleichem Schrot und Korn, die recken ihre kahlen Scheitel einander entgegen und blaſen ſich Nebelwolken zu, ein Rauſchen und Sauſen zieht durch ihre Schlüfte und was ſie über menſchliches Dichten und Treiben ſich zu- flüſtern, klang vor tauſend Jahren ſchon ziemlich verächtlich und hat ſich ſeither nicht um Vieles gebeſſert. Ohngefähr zehn Tage nachdem die Mönche der Reichenau im hohen- twieler Burgthurm an Stelle eines Gefangenen ein Häufchen Aſche vorgefunden und viel Verhandlung gepflogen hatten, ob ihn in böſer Mitternacht der Teufel bewältigt und zu Aſche verbrannt, oder ob er entwichen ſei, ſchritt ein Mann längs dem weißgrünſchäumenden Sitterbach über ſprießende Matten und Felsgeſtein bergaufwärts. Er trug einen Mantel aus Wolfsfell über ein mönchiſch Gewand, eine lederne Taſche umgeſchlagen, in der Rechten einen Speer. Oft- mals ſtieß er die eherne Spitze in's Erdreich und ſtemmte ſich am Schaft, die Waffe als Bergſtock nutzend.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/339
Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/339>, abgerufen am 25.11.2024.