Bey weiten nicht immer ist Schaamröthe ein Beweis von Schuld. Schon der Gedanke, bey Andern in Verdacht zu seyn, kann dem, der es weiß und fühlt, was guter Name ist, bey vol- lem Bewußtseyn der Unschuld des Blut in die Wangen treiben. Unter den kleinsten Köpfen, sagt Herr Zimmermann, wird man zuweilen schaamroth, wenn sie sich über diese oder jene ge- gründete oder ungegründete, bekannte oder unbe- kannte Beleidigung gegen uns vertheidigen; man sieht, daß sie einen Argwohn wider jemand näh- ren, und fürchtet, sie seyen dumm oder nieder- trächtig genug, diesen Argwohn auf Unschuldige zu werfen*). -- Man wird indeß leicht im Stande seyn, die Schaamröthe der Schuld von der der Delikatesse zu unterscheiden; indem die übrigen Geberden, Minen und das ganze Betra- gen des zusammengenommen, der, ohne sich selbst anklagen zu dürfen, erröthet, immer noch etwas Freyeres, Edles, zum Mitgefühl Einla- dendes und bey weitem nicht das Herabsetzende der Schaam haben, die aus einem vorwurfsvollen Herzen ins Angesicht steigt.
Neun
Herz haben, weil sie unter Menschen leben, in welchen es versteinert, oder in leere Atome zerstiebt ist? --
*) Zimmermann von der Erfahrung in der Arzney- kunst, 4. B 11. Kap. 550.
Bey weiten nicht immer iſt Schaamroͤthe ein Beweis von Schuld. Schon der Gedanke, bey Andern in Verdacht zu ſeyn, kann dem, der es weiß und fuͤhlt, was guter Name iſt, bey vol- lem Bewußtſeyn der Unſchuld des Blut in die Wangen treiben. Unter den kleinſten Koͤpfen, ſagt Herr Zimmermann, wird man zuweilen ſchaamroth, wenn ſie ſich uͤber dieſe oder jene ge- gruͤndete oder ungegruͤndete, bekannte oder unbe- kannte Beleidigung gegen uns vertheidigen; man ſieht, daß ſie einen Argwohn wider jemand naͤh- ren, und fuͤrchtet, ſie ſeyen dumm oder nieder- traͤchtig genug, dieſen Argwohn auf Unſchuldige zu werfen*). — Man wird indeß leicht im Stande ſeyn, die Schaamroͤthe der Schuld von der der Delikateſſe zu unterſcheiden; indem die uͤbrigen Geberden, Minen und das ganze Betra- gen des zuſammengenommen, der, ohne ſich ſelbſt anklagen zu duͤrfen, erroͤthet, immer noch etwas Freyeres, Edles, zum Mitgefuͤhl Einla- dendes und bey weitem nicht das Herabſetzende der Schaam haben, die aus einem vorwurfſvollen Herzen ins Angeſicht ſteigt.
Neun
Herz haben, weil ſie unter Menſchen leben, in welchen es verſteinert, oder in leere Atome zerſtiebt iſt? —
*) Zimmermann von der Erfahrung in der Arzney- kunſt, 4. B 11. Kap. 550.
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Bey weiten nicht immer iſt Schaamroͤthe ein
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weiß und fuͤhlt, was guter Name iſt, bey vol-
lem Bewußtſeyn der Unſchuld des Blut in die
Wangen treiben. Unter den kleinſten Koͤpfen,
ſagt Herr Zimmermann, wird man zuweilen
ſchaamroth, wenn ſie ſich uͤber dieſe oder jene ge-
gruͤndete oder ungegruͤndete, bekannte oder unbe-
kannte Beleidigung gegen uns vertheidigen; man
ſieht, daß ſie einen Argwohn wider jemand naͤh-
ren, und fuͤrchtet, ſie ſeyen dumm oder nieder-
traͤchtig genug, dieſen Argwohn auf Unſchuldige
zu werfen *). — Man wird indeß leicht im
Stande ſeyn, die Schaamroͤthe der Schuld von
der der Delikateſſe zu unterſcheiden; indem die
uͤbrigen Geberden, Minen und das ganze Betra-
gen des zuſammengenommen, der, ohne ſich
ſelbſt anklagen zu duͤrfen, erroͤthet, immer noch
etwas Freyeres, Edles, zum Mitgefuͤhl Einla-
dendes und bey weitem nicht das Herabſetzende der
Schaam haben, die aus einem vorwurfſvollen
Herzen ins Angeſicht ſteigt.
Neun
*)
*) Zimmermann von der Erfahrung in der Arzney-
kunſt, 4. B 11. Kap. 550.
*) Herz haben, weil ſie unter Menſchen leben, in
welchen es verſteinert, oder in leere Atome zerſtiebt
iſt? —
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/340>, abgerufen am 16.02.2025.
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