sich weder Muth noch Geschicklichkeit zutraut, ihm zu begegnen. Der Beschämte weiß, wie sichtlich und unverkennbar sich in den Gesichtsminen über- haupt und vorzüglich im Auge das eigne Bewußt- seyn ausdruckt; er mögte das seinige so äußerst ungern verrathen: und so muß er Gesicht und Auge vor jedem Blick des Andren zu verwahren, muß seine eigenen Blicke, deren anziehende Kraft er fühlt, so viel möglich zurückzuhalten suchen,. Jst die endeckte Schwachheit zu sichtbar, das Urtheil des Andren zu sehr außer Zweifel gesetzt; so heftet sich nun plötzlich der Blick gegen den Boden, und das Verlangen nach Rechtfertigung hat nun nicht mehr die Kraft, ihn wieder bis zu dem Gesichte des Andren, am wenigsten bis zu seinem Auge hinaufzuheben: denn wie groß auch immer dieses Verlangen sey, so ist doch die Furcht, sich ganz zu verrathen, noch größer, und vollends ist der Abscheu unüberwindlich, von den Gedan- ken und Empfindungen des Andern die ganze schnelle vollständige Kenntniß zu erlangen, die sein Minenspiel so sicher gewähren würde. Man mag in ein Gesicht, worin man sich seine Män- gel so unverkennbar vorgehalten glaubt, in ein Auge, worin man seine eigne Gestalt unter so ungünstigen Umständen nicht nur deutlich abge- bildet, sondern zugleich von dem Andern so un- mittelbar erkannt sehen würde, noch weit weniger
einen
ſich weder Muth noch Geſchicklichkeit zutraut, ihm zu begegnen. Der Beſchaͤmte weiß, wie ſichtlich und unverkennbar ſich in den Geſichtsminen uͤber- haupt und vorzuͤglich im Auge das eigne Bewußt- ſeyn ausdruckt; er moͤgte das ſeinige ſo aͤußerſt ungern verrathen: und ſo muß er Geſicht und Auge vor jedem Blick des Andren zu verwahren, muß ſeine eigenen Blicke, deren anziehende Kraft er fuͤhlt, ſo viel moͤglich zuruͤckzuhalten ſuchen,. Jſt die endeckte Schwachheit zu ſichtbar, das Urtheil des Andren zu ſehr außer Zweifel geſetzt; ſo heftet ſich nun ploͤtzlich der Blick gegen den Boden, und das Verlangen nach Rechtfertigung hat nun nicht mehr die Kraft, ihn wieder bis zu dem Geſichte des Andren, am wenigſten bis zu ſeinem Auge hinaufzuheben: denn wie groß auch immer dieſes Verlangen ſey, ſo iſt doch die Furcht, ſich ganz zu verrathen, noch groͤßer, und vollends iſt der Abſcheu unuͤberwindlich, von den Gedan- ken und Empfindungen des Andern die ganze ſchnelle vollſtaͤndige Kenntniß zu erlangen, die ſein Minenſpiel ſo ſicher gewaͤhren wuͤrde. Man mag in ein Geſicht, worin man ſich ſeine Maͤn- gel ſo unverkennbar vorgehalten glaubt, in ein Auge, worin man ſeine eigne Geſtalt unter ſo unguͤnſtigen Umſtaͤnden nicht nur deutlich abge- bildet, ſondern zugleich von dem Andern ſo un- mittelbar erkannt ſehen wuͤrde, noch weit weniger
einen
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ſich weder Muth noch Geſchicklichkeit zutraut, ihm
zu begegnen. Der Beſchaͤmte weiß, wie ſichtlich
und unverkennbar ſich in den Geſichtsminen uͤber-
haupt und vorzuͤglich im Auge das eigne Bewußt-
ſeyn ausdruckt; er moͤgte das ſeinige ſo aͤußerſt
ungern verrathen: und ſo muß er Geſicht und
Auge vor jedem Blick des Andren zu verwahren,
muß ſeine eigenen Blicke, deren anziehende Kraft
er fuͤhlt, ſo viel moͤglich zuruͤckzuhalten ſuchen,.
Jſt die endeckte Schwachheit zu ſichtbar, das
Urtheil des Andren zu ſehr außer Zweifel geſetzt;
ſo heftet ſich nun ploͤtzlich der Blick gegen den
Boden, und das Verlangen nach Rechtfertigung
hat nun nicht mehr die Kraft, ihn wieder bis zu
dem Geſichte des Andren, am wenigſten bis zu
ſeinem Auge hinaufzuheben: denn wie groß auch
immer dieſes Verlangen ſey, ſo iſt doch die Furcht,
ſich ganz zu verrathen, noch groͤßer, und vollends
iſt der Abſcheu unuͤberwindlich, von den Gedan-
ken und Empfindungen des Andern die ganze
ſchnelle vollſtaͤndige Kenntniß zu erlangen, die ſein
Minenſpiel ſo ſicher gewaͤhren wuͤrde. Man
mag in ein Geſicht, worin man ſich ſeine Maͤn-
gel ſo unverkennbar vorgehalten glaubt, in ein
Auge, worin man ſeine eigne Geſtalt unter ſo
unguͤnſtigen Umſtaͤnden nicht nur deutlich abge-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/335>, abgerufen am 22.11.2024.
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