Acht und zwanzigste Unterhaltung. Ueber den Affekt der Schaam.
Nichts verräth so sehr die von der Natur dem Menschen ins Herz gelegte Achtung für die Men- schen, als der Affekt der Schaam, der dann er- zeugt wird, wenn man fürchtet oder sieht, daß irgend eine Unvollkommenheit, die uns in den Augen Anderer herabwürdigen oder lächerlich ma- chen kann, von Andern bemerkt ist. Nur der höchste Grad von Gefühllosigkeit und Verworfen- heit der Seele kann diesen Affekt auslöschen, und auch der geübteste Versteller wird an dem Bemü- hen, ihn zu unterdrücken, seine Kunst am ersten scheitern sehen, denn Vergogna, che n'altrui stampo natura, Non si puo rinegar: che se tu tenti Di cacciarla dal cor, fugge nel volto*).
Ob sich gleich aus dem Sprachgebrauch schlie- ßen läßt, daß man sich auch vor sich selbst schämen könne, so scheint doch aus einer genauern Unter-
suchung
*) Die Schaam, vom Stempel der Natur ins Herz geprägt, kann nicht verläugnet werden: wenn du versuchst, sie aus dem Herzen zu verjagen, fliegt sie dir ins Gesicht.
Acht und zwanzigſte Unterhaltung. Ueber den Affekt der Schaam.
Nichts verraͤth ſo ſehr die von der Natur dem Menſchen ins Herz gelegte Achtung fuͤr die Men- ſchen, als der Affekt der Schaam, der dann er- zeugt wird, wenn man fuͤrchtet oder ſieht, daß irgend eine Unvollkommenheit, die uns in den Augen Anderer herabwuͤrdigen oder laͤcherlich ma- chen kann, von Andern bemerkt iſt. Nur der hoͤchſte Grad von Gefuͤhlloſigkeit und Verworfen- heit der Seele kann dieſen Affekt ausloͤſchen, und auch der geuͤbteſte Verſteller wird an dem Bemuͤ- hen, ihn zu unterdruͤcken, ſeine Kunſt am erſten ſcheitern ſehen, denn Vergogna, che n'altrui ſtampò natura, Non ſi può rinegar: che ſe tu tenti Di cacciarla dal cor, fugge nel volto*).
Ob ſich gleich aus dem Sprachgebrauch ſchlie- ßen laͤßt, daß man ſich auch vor ſich ſelbſt ſchaͤmen koͤnne, ſo ſcheint doch aus einer genauern Unter-
ſuchung
*) Die Schaam, vom Stempel der Natur ins Herz gepraͤgt, kann nicht verlaͤugnet werden: wenn du verſuchſt, ſie aus dem Herzen zu verjagen, fliegt ſie dir ins Geſicht.
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Acht und zwanzigſte Unterhaltung.
Ueber den
Affekt der Schaam.
Nichts verraͤth ſo ſehr die von der Natur dem
Menſchen ins Herz gelegte Achtung fuͤr die Men-
ſchen, als der Affekt der Schaam, der dann er-
zeugt wird, wenn man fuͤrchtet oder ſieht, daß
irgend eine Unvollkommenheit, die uns in den
Augen Anderer herabwuͤrdigen oder laͤcherlich ma-
chen kann, von Andern bemerkt iſt. Nur der
hoͤchſte Grad von Gefuͤhlloſigkeit und Verworfen-
heit der Seele kann dieſen Affekt ausloͤſchen, und
auch der geuͤbteſte Verſteller wird an dem Bemuͤ-
hen, ihn zu unterdruͤcken, ſeine Kunſt am erſten
ſcheitern ſehen, denn
Vergogna, che n'altrui ſtampò natura,
Non ſi può rinegar: che ſe tu tenti
Di cacciarla dal cor, fugge nel volto *).
Ob ſich gleich aus dem Sprachgebrauch ſchlie-
ßen laͤßt, daß man ſich auch vor ſich ſelbſt ſchaͤmen
koͤnne, ſo ſcheint doch aus einer genauern Unter-
ſuchung
*) Die Schaam, vom Stempel der Natur ins Herz
gepraͤgt, kann nicht verlaͤugnet werden: wenn du
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/332>, abgerufen am 16.02.2025.
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