einander verflößen: Körper können sich nur an, nicht in einander drücken. Brust an Brust, Mund auf Mund suchen Liebende sich gegen ein- ander auszutauschen; aber nie sättigt sie auch der stärkste Händedruck, auch der heißeste, an den Lippen des Geliebten sterbende Kuß: denn nie er- reichen sie den Zweck des völligen Einswerdens. Kennen sie nun keinen andern Weg der Vereini- gung, so folgt der aus dem höchsten sinnlichen Genusse sich jedesmal erzeugende Ueberdruß und Ekel. Man verlangte nach der völligen Zusam- menschmelzung mit dem Geliebten; alle Nerven spannten sich, dieses Verlangen zu befriedigen, und kaum glaubt man in einer wahnsinnigen Täu- schung am Ziel seines Wunsches zu seyn; so deckt das nun wiederum zur Sprache kommende Be- wußtseyn den Betrug der Sinnlichkeit auf: alle Anstrengung ist verloren, der Zweck unerreicht, Mißvergnügen und Unwille im Herzen. Wer sich dann nicht durch Herzensgenuß über die Un- möglichkeit, durch Hülfe der Sinnlichkeit den Wunsch der Liebe zu erfüllen, trösten kann, bey dem wird der Unwille bleibend, und geht in Wi- derwillen gegen den Gegenstand über, an welchem seine süßeste Hofnung scheiterte.
Will man über die Natur der Seligkeit nach dem Tode träumen; so scheint mir der Traum noch der Wahrheit am nächsten zu kommen, nach
wel-
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einander verfloͤßen: Koͤrper koͤnnen ſich nur an, nicht in einander druͤcken. Bruſt an Bruſt, Mund auf Mund ſuchen Liebende ſich gegen ein- ander auszutauſchen; aber nie ſaͤttigt ſie auch der ſtaͤrkſte Haͤndedruck, auch der heißeſte, an den Lippen des Geliebten ſterbende Kuß: denn nie er- reichen ſie den Zweck des voͤlligen Einswerdens. Kennen ſie nun keinen andern Weg der Vereini- gung, ſo folgt der aus dem hoͤchſten ſinnlichen Genuſſe ſich jedesmal erzeugende Ueberdruß und Ekel. Man verlangte nach der voͤlligen Zuſam- menſchmelzung mit dem Geliebten; alle Nerven ſpannten ſich, dieſes Verlangen zu befriedigen, und kaum glaubt man in einer wahnſinnigen Taͤu- ſchung am Ziel ſeines Wunſches zu ſeyn; ſo deckt das nun wiederum zur Sprache kommende Be- wußtſeyn den Betrug der Sinnlichkeit auf: alle Anſtrengung iſt verloren, der Zweck unerreicht, Mißvergnuͤgen und Unwille im Herzen. Wer ſich dann nicht durch Herzensgenuß uͤber die Un- moͤglichkeit, durch Huͤlfe der Sinnlichkeit den Wunſch der Liebe zu erfuͤllen, troͤſten kann, bey dem wird der Unwille bleibend, und geht in Wi- derwillen gegen den Gegenſtand uͤber, an welchem ſeine ſuͤßeſte Hofnung ſcheiterte.
Will man uͤber die Natur der Seligkeit nach dem Tode traͤumen; ſo ſcheint mir der Traum noch der Wahrheit am naͤchſten zu kommen, nach
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einander verfloͤßen: Koͤrper koͤnnen ſich nur an,
nicht in einander druͤcken. Bruſt an Bruſt,
Mund auf Mund ſuchen Liebende ſich gegen ein-
ander auszutauſchen; aber nie ſaͤttigt ſie auch der
ſtaͤrkſte Haͤndedruck, auch der heißeſte, an den
Lippen des Geliebten ſterbende Kuß: denn nie er-
reichen ſie den Zweck des voͤlligen Einswerdens.
Kennen ſie nun keinen andern Weg der Vereini-
gung, ſo folgt der aus dem hoͤchſten ſinnlichen
Genuſſe ſich jedesmal erzeugende Ueberdruß und
Ekel. Man verlangte nach der voͤlligen Zuſam-
menſchmelzung mit dem Geliebten; alle Nerven
ſpannten ſich, dieſes Verlangen zu befriedigen,
und kaum glaubt man in einer wahnſinnigen Taͤu-
ſchung am Ziel ſeines Wunſches zu ſeyn; ſo deckt
das nun wiederum zur Sprache kommende Be-
wußtſeyn den Betrug der Sinnlichkeit auf: alle
Anſtrengung iſt verloren, der Zweck unerreicht,
Mißvergnuͤgen und Unwille im Herzen. Wer
ſich dann nicht durch Herzensgenuß uͤber die Un-
moͤglichkeit, durch Huͤlfe der Sinnlichkeit den
Wunſch der Liebe zu erfuͤllen, troͤſten kann, bey
dem wird der Unwille bleibend, und geht in Wi-
derwillen gegen den Gegenſtand uͤber, an welchem
ſeine ſuͤßeſte Hofnung ſcheiterte.
Will man uͤber die Natur der Seligkeit nach
dem Tode traͤumen; ſo ſcheint mir der Traum
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/251>, abgerufen am 22.11.2024.
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