Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.So ist es auch bey der Mitfreude. Eine zu- genossen, so wird es schwerer. Es kann vielleicht
der, welcher einen Leidenden sieht, in dessen Si- tuation ihn seine eigne Erfahrung nicht versetzen kann, das Leiden desselben sich sehr groß vorstellen, und oft ausrufen: Der arme Mensch mag wohl sehr viel leiden; aber er wird gewiß von seiner, im- mer noch etwas ungewissen, Vorstellung nicht so gerührt, als der, welcher sagen kann: Der arme Mensch leidet sehr viel. Einer meiner Freunde stellte meiner Behaup- tung, daß Selbsterfahrung den Grad der Sym- pathie erhöhe, die Erfahrung entgegen, daß ein Krieger durch den Anblick seines verwundeten, zer- schossenen, auf dem Schlachtfelde liegenden Bru- ders bey weitem nicht so afficirt würde, als der, der niemals bey Schlachten zugegen war. -- So richtig indeß diese Erfahrung auch ist; so wenig be- weist sie das, was sie beweisen sollte. Dem Krie- ger hat allerdings die Gewohnheit diesen Anblick minder fürchterlich gemacht; allein demohnerach- tet ist sein Mitleiden stärker, als das der Uebrigen: welches sich sehr deutlich zeigt, wenn es auf Hülfe und Unterstützung seiner unglücklichen Brüder an- kommt. Der Krieger trägt zur Errichtung von Jnvalidenhäusern, Collekten für kranke Soldaten etc. gewiß mehr und williger bey, als der Civilist. So iſt es auch bey der Mitfreude. Eine zu- genoſſen, ſo wird es ſchwerer. Es kann vielleicht
der, welcher einen Leidenden ſieht, in deſſen Si- tuation ihn ſeine eigne Erfahrung nicht verſetzen kann, das Leiden deſſelben ſich ſehr groß vorſtellen, und oft ausrufen: Der arme Menſch mag wohl ſehr viel leiden; aber er wird gewiß von ſeiner, im- mer noch etwas ungewiſſen, Vorſtellung nicht ſo geruͤhrt, als der, welcher ſagen kann: Der arme Menſch leidet ſehr viel. Einer meiner Freunde ſtellte meiner Behaup- tung, daß Selbſterfahrung den Grad der Sym- pathie erhoͤhe, die Erfahrung entgegen, daß ein Krieger durch den Anblick ſeines verwundeten, zer- ſchoſſenen, auf dem Schlachtfelde liegenden Bru- ders bey weitem nicht ſo afficirt wuͤrde, als der, der niemals bey Schlachten zugegen war. — So richtig indeß dieſe Erfahrung auch iſt; ſo wenig be- weiſt ſie das, was ſie beweiſen ſollte. Dem Krie- ger hat allerdings die Gewohnheit dieſen Anblick minder fuͤrchterlich gemacht; allein demohnerach- tet iſt ſein Mitleiden ſtaͤrker, als das der Uebrigen: welches ſich ſehr deutlich zeigt, wenn es auf Huͤlfe und Unterſtuͤtzung ſeiner ungluͤcklichen Bruͤder an- kommt. Der Krieger traͤgt zur Errichtung von Jnvalidenhaͤuſern, Collekten fuͤr kranke Soldaten ꝛc. gewiß mehr und williger bey, als der Civiliſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0239" n="523"/> <p>So iſt es auch bey der <hi rendition="#b">Mitfreude</hi>. Eine<lb/> Freude, welche man ſelbſt ſchon empfunden hat,<lb/> fuͤhrt uns, wenn wir Andere von derſelben erhei-<lb/> tert ſehen, aufs neue in die angenehme Situation<lb/> <fw place="bottom" type="catch">zu-</fw><lb/><note xml:id="seg2pn_20_2" prev="#seg2pn_20_1" place="foot" n="*)"><p>genoſſen, ſo wird es ſchwerer. Es kann vielleicht<lb/> der, welcher einen Leidenden ſieht, in deſſen Si-<lb/> tuation ihn ſeine eigne Erfahrung nicht verſetzen<lb/> kann, das Leiden deſſelben ſich ſehr groß <hi rendition="#fr">vorſtellen</hi>,<lb/> und oft ausrufen: Der arme Menſch <hi rendition="#fr">mag</hi> wohl<lb/> ſehr viel leiden; aber er wird gewiß von ſeiner, im-<lb/> mer noch etwas <hi rendition="#fr">ungewiſſen</hi>, Vorſtellung nicht ſo<lb/><hi rendition="#fr">geruͤhrt</hi>, als der, welcher ſagen kann: Der arme<lb/> Menſch <hi rendition="#fr">leidet</hi> ſehr viel.</p><lb/><p>Einer meiner Freunde ſtellte meiner Behaup-<lb/> tung, daß Selbſterfahrung den Grad der Sym-<lb/> pathie erhoͤhe, die Erfahrung entgegen, daß ein<lb/> Krieger durch den Anblick ſeines verwundeten, zer-<lb/> ſchoſſenen, auf dem Schlachtfelde liegenden Bru-<lb/> ders bey weitem nicht ſo afficirt wuͤrde, als der, der<lb/> niemals bey Schlachten zugegen war. — So<lb/> richtig indeß dieſe Erfahrung auch iſt; ſo wenig be-<lb/> weiſt ſie das, was ſie beweiſen ſollte. Dem Krie-<lb/> ger hat allerdings die Gewohnheit dieſen Anblick<lb/> minder <hi rendition="#fr">fuͤrchterlich</hi> gemacht; allein demohnerach-<lb/> tet iſt ſein <hi rendition="#fr">Mitleiden</hi> ſtaͤrker, als das der Uebrigen:<lb/> welches ſich ſehr deutlich zeigt, wenn es auf Huͤlfe<lb/> und Unterſtuͤtzung ſeiner ungluͤcklichen Bruͤder an-<lb/> kommt. Der Krieger traͤgt zur Errichtung von<lb/> Jnvalidenhaͤuſern, Collekten fuͤr kranke Soldaten ꝛc.<lb/> gewiß mehr und williger bey, als der Civiliſt.</p></note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [523/0239]
So iſt es auch bey der Mitfreude. Eine
Freude, welche man ſelbſt ſchon empfunden hat,
fuͤhrt uns, wenn wir Andere von derſelben erhei-
tert ſehen, aufs neue in die angenehme Situation
zu-
*)
*) genoſſen, ſo wird es ſchwerer. Es kann vielleicht
der, welcher einen Leidenden ſieht, in deſſen Si-
tuation ihn ſeine eigne Erfahrung nicht verſetzen
kann, das Leiden deſſelben ſich ſehr groß vorſtellen,
und oft ausrufen: Der arme Menſch mag wohl
ſehr viel leiden; aber er wird gewiß von ſeiner, im-
mer noch etwas ungewiſſen, Vorſtellung nicht ſo
geruͤhrt, als der, welcher ſagen kann: Der arme
Menſch leidet ſehr viel.
Einer meiner Freunde ſtellte meiner Behaup-
tung, daß Selbſterfahrung den Grad der Sym-
pathie erhoͤhe, die Erfahrung entgegen, daß ein
Krieger durch den Anblick ſeines verwundeten, zer-
ſchoſſenen, auf dem Schlachtfelde liegenden Bru-
ders bey weitem nicht ſo afficirt wuͤrde, als der, der
niemals bey Schlachten zugegen war. — So
richtig indeß dieſe Erfahrung auch iſt; ſo wenig be-
weiſt ſie das, was ſie beweiſen ſollte. Dem Krie-
ger hat allerdings die Gewohnheit dieſen Anblick
minder fuͤrchterlich gemacht; allein demohnerach-
tet iſt ſein Mitleiden ſtaͤrker, als das der Uebrigen:
welches ſich ſehr deutlich zeigt, wenn es auf Huͤlfe
und Unterſtuͤtzung ſeiner ungluͤcklichen Bruͤder an-
kommt. Der Krieger traͤgt zur Errichtung von
Jnvalidenhaͤuſern, Collekten fuͤr kranke Soldaten ꝛc.
gewiß mehr und williger bey, als der Civiliſt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |