Wenn man ein Leiden oder eine Freude an Andern wahrnimmt, die man selbst erfahren hat; so wird dadurch das Mitgefühl stärker afficirt, als durch Leiden oder Freude, die man nicht aus eig- ner Erfahrung kennt.
Wer selbst die Schmerzen einer Krankheit empfunden hat, wird inniger durch das Anschauen des kranken Bruders gerührt, als der, welcher nie auf ähnliche Weise gelitten hat.
Wer selbst durch Feuersbrunst oder Wasser- fluth seines Vermögens, seiner Freunde, seiner Kinder beraubt wurde, fühlt das Unglück dessen, den eben diese Uebel betroffen, gewiß stärker, als der, den es noch nie traf.
"Mein eignes Leiden hat mich gelehrt, dem Leidenden Hülfe zu leisten," sagt Dido zu Ae- neas, der bey ihr Schutz sucht*).
Es läßt sich der Grund dieser Erscheinung auch sehr leicht finden. Ein Uebel, welches ich selbst erfuhr, erinnert mich lebhaft an alle die Schmerzen und Bedürfnisse, welche ich bey Er- duldung desselben empfand: bey einem solchen Uebel kann der Gedanke, daß der Leidende mehr zu fühlen wähne, als er wirklich fühlt, nicht auf- kommen, und die Gleichheit selbst, in welcher ich ihn mit mir in dieser Beziehung erblicke, knüpft
ihn
*)Non ignara mali miseris succurrere disco. Aen. 1. 630.
Kk 5
Wenn man ein Leiden oder eine Freude an Andern wahrnimmt, die man ſelbſt erfahren hat; ſo wird dadurch das Mitgefuͤhl ſtaͤrker afficirt, als durch Leiden oder Freude, die man nicht aus eig- ner Erfahrung kennt.
Wer ſelbſt die Schmerzen einer Krankheit empfunden hat, wird inniger durch das Anſchauen des kranken Bruders geruͤhrt, als der, welcher nie auf aͤhnliche Weiſe gelitten hat.
Wer ſelbſt durch Feuersbrunſt oder Waſſer- fluth ſeines Vermoͤgens, ſeiner Freunde, ſeiner Kinder beraubt wurde, fuͤhlt das Ungluͤck deſſen, den eben dieſe Uebel betroffen, gewiß ſtaͤrker, als der, den es noch nie traf.
„Mein eignes Leiden hat mich gelehrt, dem Leidenden Huͤlfe zu leiſten,„ ſagt Dido zu Ae- neas, der bey ihr Schutz ſucht*).
Es laͤßt ſich der Grund dieſer Erſcheinung auch ſehr leicht finden. Ein Uebel, welches ich ſelbſt erfuhr, erinnert mich lebhaft an alle die Schmerzen und Beduͤrfniſſe, welche ich bey Er- duldung deſſelben empfand: bey einem ſolchen Uebel kann der Gedanke, daß der Leidende mehr zu fuͤhlen waͤhne, als er wirklich fuͤhlt, nicht auf- kommen, und die Gleichheit ſelbſt, in welcher ich ihn mit mir in dieſer Beziehung erblicke, knuͤpft
ihn
*)Non ignara mali miſeris ſuccurrere diſco. Aen. 1. 630.
Kk 5
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Wenn man ein Leiden oder eine Freude an
Andern wahrnimmt, die man ſelbſt erfahren hat;
ſo wird dadurch das Mitgefuͤhl ſtaͤrker afficirt, als
durch Leiden oder Freude, die man nicht aus eig-
ner Erfahrung kennt.
Wer ſelbſt die Schmerzen einer Krankheit
empfunden hat, wird inniger durch das Anſchauen
des kranken Bruders geruͤhrt, als der, welcher
nie auf aͤhnliche Weiſe gelitten hat.
Wer ſelbſt durch Feuersbrunſt oder Waſſer-
fluth ſeines Vermoͤgens, ſeiner Freunde, ſeiner
Kinder beraubt wurde, fuͤhlt das Ungluͤck deſſen,
den eben dieſe Uebel betroffen, gewiß ſtaͤrker, als
der, den es noch nie traf.
„Mein eignes Leiden hat mich gelehrt, dem
Leidenden Huͤlfe zu leiſten,„ ſagt Dido zu Ae-
neas, der bey ihr Schutz ſucht *).
Es laͤßt ſich der Grund dieſer Erſcheinung
auch ſehr leicht finden. Ein Uebel, welches ich
ſelbſt erfuhr, erinnert mich lebhaft an alle die
Schmerzen und Beduͤrfniſſe, welche ich bey Er-
duldung deſſelben empfand: bey einem ſolchen
Uebel kann der Gedanke, daß der Leidende mehr
zu fuͤhlen waͤhne, als er wirklich fuͤhlt, nicht auf-
kommen, und die Gleichheit ſelbſt, in welcher ich
ihn mit mir in dieſer Beziehung erblicke, knuͤpft
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*) Non ignara mali miſeris ſuccurrere diſco.
Aen. 1. 630.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 521. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/237>, abgerufen am 28.07.2024.
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