Mitfreude, wenn das Gegentheil ist, von Mit- leiden bewegt.
Weil man also die Empfindungen des Anderen nicht unmittelbar empfangen kann, sondern sie sich selbst geben muß; indem man sich vorstellt, was man in dem Zustande, welchen der Ausdruck zu bezeichnen scheint, selbst empfinden würde; so kann das Gefühl des Sympathisirenden nicht im- mer dem Gefühl dessen, mit dem er sympathisirt, gleich seyn. Die Phantasie verkleinert entweder die Empfindung des Andern, oder vergrößert sie; ja ändert wohl gar die Beschaffenheit der Empfin- dungen selbst, und bildet sich die Leiden als Freu- den, die Freuden als Leiden vor.
Gewiß hatte Polyrena es nicht für eine Glückseligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil- les geschlachtet zu werden; aber Andromache, die, einst Hectors Gemahlin, itzt eines Barba- ren Sclavin ist, preist sie vor Andern deswegen selig: O Priams Tochter, ruft sie aus, vor Andern einzig beglückt, daß über dir, am Grabe des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert, kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin nicht des siegenden Gebieters Bette berühren darfst*). Andromache, die den Tod ihrem
sclavi-
*)O felix una ante alias Priameia virgo, Hostilem ad tumulum Trojae sub moenibus altis
Jussa
Mitfreude, wenn das Gegentheil iſt, von Mit- leiden bewegt.
Weil man alſo die Empfindungen des Anderen nicht unmittelbar empfangen kann, ſondern ſie ſich ſelbſt geben muß; indem man ſich vorſtellt, was man in dem Zuſtande, welchen der Ausdruck zu bezeichnen ſcheint, ſelbſt empfinden wuͤrde; ſo kann das Gefuͤhl des Sympathiſirenden nicht im- mer dem Gefuͤhl deſſen, mit dem er ſympathiſirt, gleich ſeyn. Die Phantaſie verkleinert entweder die Empfindung des Andern, oder vergroͤßert ſie; ja aͤndert wohl gar die Beſchaffenheit der Empfin- dungen ſelbſt, und bildet ſich die Leiden als Freu- den, die Freuden als Leiden vor.
Gewiß hatte Polyrena es nicht fuͤr eine Gluͤckſeligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil- les geſchlachtet zu werden; aber Andromache, die, einſt Hectors Gemahlin, itzt eines Barba- ren Sclavin iſt, preiſt ſie vor Andern deswegen ſelig: O Priams Tochter, ruft ſie aus, vor Andern einzig begluͤckt, daß uͤber dir, am Grabe des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert, kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin nicht des ſiegenden Gebieters Bette beruͤhren darfſt*). Andromache, die den Tod ihrem
ſclavi-
*)O felix una ante alias Priameïa virgo, Hoſtilem ad tumulum Trojae ſub moenibus altis
Juſſa
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Mitfreude, wenn das Gegentheil iſt, von Mit-
leiden bewegt.
Weil man alſo die Empfindungen des Anderen
nicht unmittelbar empfangen kann, ſondern ſie ſich
ſelbſt geben muß; indem man ſich vorſtellt, was
man in dem Zuſtande, welchen der Ausdruck zu
bezeichnen ſcheint, ſelbſt empfinden wuͤrde; ſo
kann das Gefuͤhl des Sympathiſirenden nicht im-
mer dem Gefuͤhl deſſen, mit dem er ſympathiſirt,
gleich ſeyn. Die Phantaſie verkleinert entweder
die Empfindung des Andern, oder vergroͤßert ſie;
ja aͤndert wohl gar die Beſchaffenheit der Empfin-
dungen ſelbſt, und bildet ſich die Leiden als Freu-
den, die Freuden als Leiden vor.
Gewiß hatte Polyrena es nicht fuͤr eine
Gluͤckſeligkeit gehalten, an dem Grabe des Achil-
les geſchlachtet zu werden; aber Andromache,
die, einſt Hectors Gemahlin, itzt eines Barba-
ren Sclavin iſt, preiſt ſie vor Andern deswegen
ſelig: O Priams Tochter, ruft ſie aus, vor
Andern einzig begluͤckt, daß uͤber dir, am Grabe
des Feindes unter Trojas hohen Mauern geopfert,
kein Loos geworfen ward; und du als Sclavin
nicht des ſiegenden Gebieters Bette beruͤhren
darfſt *). Andromache, die den Tod ihrem
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*) O felix una ante alias Priameïa virgo,
Hoſtilem ad tumulum Trojae ſub moenibus altis
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/234>, abgerufen am 28.07.2024.
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