einseitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen Gefährten den Körper wirkt, erhält, und sie mithin nicht im Stande ist, was eigentlich die Empfindung ausmache, zu erkennen; so hat die Phantasie volle Freyheit, aus den wirklichen Sensationen zu machen, was sie will; und knüpft daher an dieselben solche Bilder, die ihr entweder überhaupt am liebsten und geläufigsten sind oder kurz zuvor am lebhaftesten in ihr waren. Der Führer eines Kriegsheers träumt am öftersten von Schlachten und Ueberfällen; der Jäger ver- folgt auch im Traume Hirsche und Hasen; der spie- lende Knabe treibt den Kräusel oder schlägt den Volanten, und die für die Toilette geborne Dame, nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen. Die Sorge und das böse Gewissen folgen dem un- glücklichen Gegenstande ihrer nagenden Pein nicht blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf sein Lager folgen sie ihm: er sucht Ruhe und kann sie nicht finden.
Meisterhaft erlogen war Kaiphas Traum in dem vierten Gesange der Messiade, wenn er ihn nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorstellungen, die den Hohenpriester wachend am meisten be- schäfftigten, finden wir in demselben: die Vor- stellungen seines Amts, seiner Religion, seiner priesterlichen Plane. So läßt ihn der vortreff-
liche
einſeitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen Gefaͤhrten den Koͤrper wirkt, erhaͤlt, und ſie mithin nicht im Stande iſt, was eigentlich die Empfindung ausmache, zu erkennen; ſo hat die Phantaſie volle Freyheit, aus den wirklichen Senſationen zu machen, was ſie will; und knuͤpft daher an dieſelben ſolche Bilder, die ihr entweder uͤberhaupt am liebſten und gelaͤufigſten ſind oder kurz zuvor am lebhafteſten in ihr waren. Der Fuͤhrer eines Kriegsheers traͤumt am oͤfterſten von Schlachten und Ueberfaͤllen; der Jaͤger ver- folgt auch im Traume Hirſche und Haſen; der ſpie- lende Knabe treibt den Kraͤuſel oder ſchlaͤgt den Volanten, und die fuͤr die Toilette geborne Dame, nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen. Die Sorge und das boͤſe Gewiſſen folgen dem un- gluͤcklichen Gegenſtande ihrer nagenden Pein nicht blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf ſein Lager folgen ſie ihm: er ſucht Ruhe und kann ſie nicht finden.
Meiſterhaft erlogen war Kaiphas Traum in dem vierten Geſange der Meſſiade, wenn er ihn nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorſtellungen, die den Hohenprieſter wachend am meiſten be- ſchaͤfftigten, finden wir in demſelben: die Vor- ſtellungen ſeines Amts, ſeiner Religion, ſeiner prieſterlichen Plane. So laͤßt ihn der vortreff-
liche
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einſeitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen
Gefaͤhrten den Koͤrper wirkt, erhaͤlt, und ſie
mithin nicht im Stande iſt, was eigentlich die
Empfindung ausmache, zu erkennen; ſo hat die
Phantaſie volle Freyheit, aus den wirklichen
Senſationen zu machen, was ſie will; und knuͤpft
daher an dieſelben ſolche Bilder, die ihr entweder
uͤberhaupt am liebſten und gelaͤufigſten ſind oder
kurz zuvor am lebhafteſten in ihr waren. Der
Fuͤhrer eines Kriegsheers traͤumt am oͤfterſten
von Schlachten und Ueberfaͤllen; der Jaͤger ver-
folgt auch im Traume Hirſche und Haſen; der ſpie-
lende Knabe treibt den Kraͤuſel oder ſchlaͤgt den
Volanten, und die fuͤr die Toilette geborne Dame,
nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen.
Die Sorge und das boͤſe Gewiſſen folgen dem un-
gluͤcklichen Gegenſtande ihrer nagenden Pein nicht
blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf ſein
Lager folgen ſie ihm: er ſucht Ruhe und kann ſie
nicht finden.
Meiſterhaft erlogen war Kaiphas Traum in
dem vierten Geſange der Meſſiade, wenn er ihn
nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorſtellungen,
die den Hohenprieſter wachend am meiſten be-
ſchaͤfftigten, finden wir in demſelben: die Vor-
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prieſterlichen Plane. So laͤßt ihn der vortreff-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/96>, abgerufen am 22.11.2024.
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