Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

einseitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen
Gefährten den Körper wirkt, erhält, und sie
mithin nicht im Stande ist, was eigentlich die
Empfindung ausmache, zu erkennen; so hat die
Phantasie volle Freyheit, aus den wirklichen
Sensationen zu machen, was sie will; und knüpft
daher an dieselben solche Bilder, die ihr entweder
überhaupt am liebsten und geläufigsten sind oder
kurz zuvor am lebhaftesten in ihr waren. Der
Führer eines Kriegsheers träumt am öftersten
von Schlachten und Ueberfällen; der Jäger ver-
folgt auch im Traume Hirsche und Hasen; der spie-
lende Knabe treibt den Kräusel oder schlägt den
Volanten, und die für die Toilette geborne Dame,
nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen.
Die Sorge und das böse Gewissen folgen dem un-
glücklichen Gegenstande ihrer nagenden Pein nicht
blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf sein
Lager folgen sie ihm: er sucht Ruhe und kann sie
nicht finden.

Meisterhaft erlogen war Kaiphas Traum in
dem vierten Gesange der Messiade, wenn er ihn
nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorstellungen,
die den Hohenpriester wachend am meisten be-
schäfftigten, finden wir in demselben: die Vor-
stellungen seines Amts, seiner Religion, seiner
priesterlichen Plane. So läßt ihn der vortreff-

liche

einſeitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen
Gefaͤhrten den Koͤrper wirkt, erhaͤlt, und ſie
mithin nicht im Stande iſt, was eigentlich die
Empfindung ausmache, zu erkennen; ſo hat die
Phantaſie volle Freyheit, aus den wirklichen
Senſationen zu machen, was ſie will; und knuͤpft
daher an dieſelben ſolche Bilder, die ihr entweder
uͤberhaupt am liebſten und gelaͤufigſten ſind oder
kurz zuvor am lebhafteſten in ihr waren. Der
Fuͤhrer eines Kriegsheers traͤumt am oͤfterſten
von Schlachten und Ueberfaͤllen; der Jaͤger ver-
folgt auch im Traume Hirſche und Haſen; der ſpie-
lende Knabe treibt den Kraͤuſel oder ſchlaͤgt den
Volanten, und die fuͤr die Toilette geborne Dame,
nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen.
Die Sorge und das boͤſe Gewiſſen folgen dem un-
gluͤcklichen Gegenſtande ihrer nagenden Pein nicht
blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf ſein
Lager folgen ſie ihm: er ſucht Ruhe und kann ſie
nicht finden.

Meiſterhaft erlogen war Kaiphas Traum in
dem vierten Geſange der Meſſiade, wenn er ihn
nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorſtellungen,
die den Hohenprieſter wachend am meiſten be-
ſchaͤfftigten, finden wir in demſelben: die Vor-
ſtellungen ſeines Amts, ſeiner Religion, ſeiner
prieſterlichen Plane. So laͤßt ihn der vortreff-

liche
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0096" n="72"/>
ein&#x017F;eitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen<lb/>
Gefa&#x0364;hrten den Ko&#x0364;rper wirkt, erha&#x0364;lt, und &#x017F;ie<lb/>
mithin nicht im Stande i&#x017F;t, was eigentlich die<lb/>
Empfindung ausmache, zu erkennen; &#x017F;o hat die<lb/>
Phanta&#x017F;ie volle Freyheit, aus den wirklichen<lb/>
Sen&#x017F;ationen zu machen, was &#x017F;ie will; und knu&#x0364;pft<lb/>
daher an die&#x017F;elben &#x017F;olche Bilder, die ihr entweder<lb/>
u&#x0364;berhaupt am lieb&#x017F;ten und gela&#x0364;ufig&#x017F;ten &#x017F;ind oder<lb/>
kurz zuvor am lebhafte&#x017F;ten in ihr waren. Der<lb/>
Fu&#x0364;hrer eines Kriegsheers tra&#x0364;umt am o&#x0364;fter&#x017F;ten<lb/>
von Schlachten und Ueberfa&#x0364;llen; der Ja&#x0364;ger ver-<lb/>
folgt auch im Traume Hir&#x017F;che und Ha&#x017F;en; der &#x017F;pie-<lb/>
lende Knabe treibt den Kra&#x0364;u&#x017F;el oder &#x017F;chla&#x0364;gt den<lb/>
Volanten, und die fu&#x0364;r die Toilette geborne Dame,<lb/>
nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen.<lb/>
Die Sorge und das bo&#x0364;&#x017F;e Gewi&#x017F;&#x017F;en folgen dem un-<lb/>
glu&#x0364;cklichen Gegen&#x017F;tande ihrer nagenden Pein nicht<lb/>
blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf &#x017F;ein<lb/>
Lager folgen &#x017F;ie ihm: er &#x017F;ucht Ruhe und kann &#x017F;ie<lb/>
nicht finden.</p><lb/>
          <p>Mei&#x017F;terhaft erlogen war Kaiphas Traum in<lb/>
dem vierten Ge&#x017F;ange der Me&#x017F;&#x017F;iade, wenn er ihn<lb/>
nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vor&#x017F;tellungen,<lb/>
die den Hohenprie&#x017F;ter wachend am mei&#x017F;ten be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;fftigten, finden wir in dem&#x017F;elben: die Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen &#x017F;eines Amts, &#x017F;einer Religion, &#x017F;einer<lb/>
prie&#x017F;terlichen Plane. So la&#x0364;ßt ihn der vortreff-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">liche</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0096] einſeitige Nachricht von dem, was auf ihren treuen Gefaͤhrten den Koͤrper wirkt, erhaͤlt, und ſie mithin nicht im Stande iſt, was eigentlich die Empfindung ausmache, zu erkennen; ſo hat die Phantaſie volle Freyheit, aus den wirklichen Senſationen zu machen, was ſie will; und knuͤpft daher an dieſelben ſolche Bilder, die ihr entweder uͤberhaupt am liebſten und gelaͤufigſten ſind oder kurz zuvor am lebhafteſten in ihr waren. Der Fuͤhrer eines Kriegsheers traͤumt am oͤfterſten von Schlachten und Ueberfaͤllen; der Jaͤger ver- folgt auch im Traume Hirſche und Haſen; der ſpie- lende Knabe treibt den Kraͤuſel oder ſchlaͤgt den Volanten, und die fuͤr die Toilette geborne Dame, nutzt auch die Stunden des Schlafes zum Putzen. Die Sorge und das boͤſe Gewiſſen folgen dem un- gluͤcklichen Gegenſtande ihrer nagenden Pein nicht blos aufs Pferd und in's Schiff, auch auf ſein Lager folgen ſie ihm: er ſucht Ruhe und kann ſie nicht finden. Meiſterhaft erlogen war Kaiphas Traum in dem vierten Geſange der Meſſiade, wenn er ihn nicht wirklich gehabt hatte. Alle Vorſtellungen, die den Hohenprieſter wachend am meiſten be- ſchaͤfftigten, finden wir in demſelben: die Vor- ſtellungen ſeines Amts, ſeiner Religion, ſeiner prieſterlichen Plane. So laͤßt ihn der vortreff- liche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/96
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/96>, abgerufen am 22.11.2024.