Es hat also die Seele ein Vermögen, auch das, was sie nicht als gegenwärtig empfindet, sich vorzubilden, für die angenehme Empfindung ein Aequivalent, für die unangenehme einen quä- lenden Schatten, ein Nichts im Etwas zu ge- ben -- das Vermögen, etwas was nicht gegen- wärtig ist, in Seelenbildern zu repräsentiren. Das ist's, was man Einbildungskraft, Jma- gination, Phantasie heißt.*) Sie zeigt dem Schwärmer seine Chimären, dem Träumenden seine Gesichter, dem Wachenden seine gehabten Empfindungen, oder das, was sie aus ihnen zu- sammentrug. -- Jhren Stoff nimmt sie aus der Empfindung. Wie könnte sich auch die Seele ein Bild von einem Gegenstande machen, der nie, weder ganz noch nach den einzelnen Theilen, aus wel- chen er zusammengesetzt ist, von ihr wahrgenom- men wäre? Auch zu den Abbildungen der Ge- genstände, welche das Auge nie sah und das Ohr nicht hörte, entlehnt sie die Farben aus ihren Em- pfindungen. Der Bewohner eines ebnen Landes bildet die Vorstellungen von den Alpen aus seinen kleinen Hügeln: der Nachbar des Brockens aus diesem. Kriegerische Nationen erwarten auch nach
dem
*) Jch brauche diese drey Worte völlig synonymisch -- da sie Bezeichnungen eines und desselben Gegenstan- des und nur als Worte verschiedner Sprachen ver- schieden sind.
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Es hat alſo die Seele ein Vermoͤgen, auch das, was ſie nicht als gegenwaͤrtig empfindet, ſich vorzubilden, fuͤr die angenehme Empfindung ein Aequivalent, fuͤr die unangenehme einen quaͤ- lenden Schatten, ein Nichts im Etwas zu ge- ben — das Vermoͤgen, etwas was nicht gegen- waͤrtig iſt, in Seelenbildern zu repraͤſentiren. Das iſt's, was man Einbildungskraft, Jma- gination, Phantaſie heißt.*) Sie zeigt dem Schwaͤrmer ſeine Chimaͤren, dem Traͤumenden ſeine Geſichter, dem Wachenden ſeine gehabten Empfindungen, oder das, was ſie aus ihnen zu- ſammentrug. — Jhren Stoff nimmt ſie aus der Empfindung. Wie koͤnnte ſich auch die Seele ein Bild von einem Gegenſtande machen, der nie, weder ganz noch nach den einzelnen Theilen, aus wel- chen er zuſammengeſetzt iſt, von ihr wahrgenom- men waͤre? Auch zu den Abbildungen der Ge- genſtaͤnde, welche das Auge nie ſah und das Ohr nicht hoͤrte, entlehnt ſie die Farben aus ihren Em- pfindungen. Der Bewohner eines ebnen Landes bildet die Vorſtellungen von den Alpen aus ſeinen kleinen Huͤgeln: der Nachbar des Brockens aus dieſem. Kriegeriſche Nationen erwarten auch nach
dem
*) Jch brauche dieſe drey Worte voͤllig ſynonymiſch — da ſie Bezeichnungen eines und deſſelben Gegenſtan- des und nur als Worte verſchiedner Sprachen ver- ſchieden ſind.
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Es hat alſo die Seele ein Vermoͤgen, auch
das, was ſie nicht als gegenwaͤrtig empfindet, ſich
vorzubilden, fuͤr die angenehme Empfindung
ein Aequivalent, fuͤr die unangenehme einen quaͤ-
lenden Schatten, ein Nichts im Etwas zu ge-
ben — das Vermoͤgen, etwas was nicht gegen-
waͤrtig iſt, in Seelenbildern zu repraͤſentiren.
Das iſt's, was man Einbildungskraft, Jma-
gination, Phantaſie heißt. *) Sie zeigt dem
Schwaͤrmer ſeine Chimaͤren, dem Traͤumenden
ſeine Geſichter, dem Wachenden ſeine gehabten
Empfindungen, oder das, was ſie aus ihnen zu-
ſammentrug. — Jhren Stoff nimmt ſie aus
der Empfindung. Wie koͤnnte ſich auch die Seele
ein Bild von einem Gegenſtande machen, der nie,
weder ganz noch nach den einzelnen Theilen, aus wel-
chen er zuſammengeſetzt iſt, von ihr wahrgenom-
men waͤre? Auch zu den Abbildungen der Ge-
genſtaͤnde, welche das Auge nie ſah und das Ohr
nicht hoͤrte, entlehnt ſie die Farben aus ihren Em-
pfindungen. Der Bewohner eines ebnen Landes
bildet die Vorſtellungen von den Alpen aus ſeinen
kleinen Huͤgeln: der Nachbar des Brockens aus
dieſem. Kriegeriſche Nationen erwarten auch nach
dem
*) Jch brauche dieſe drey Worte voͤllig ſynonymiſch —
da ſie Bezeichnungen eines und deſſelben Gegenſtan-
des und nur als Worte verſchiedner Sprachen ver-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/63>, abgerufen am 16.02.2025.
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