Euer Auge nicht ein Gift einsauge, welches Eure Unschuld vergeben kann.
Die Vorstellung ist die Mutter der That. Wer oft mit der Mutter umgeht, gewöhnt sich auch leicht an den Umgang mit der Tochter. Wer sich oft mit Vorstellungen des Lasters unterhält, gewöhnt sich ans Laster, und die Gewohnheit ist, wie Hamlet so wahr sagt, "ein Ungeheuer, das, wie ein Teufel, alles Gefühl des Lasters hinwegfrißt." -- Wenn die Nationalversamm- lung deswegen die Niederreißung der Statüe, welche Ludwig XIV. und zu seinen Füßen die El- sasser in Sclavenketten darstellt, decretirte, daß die künftigen Könige der Franzosen durch diesen Anblick nicht daran gewöhnt würden, sich ihre Un- terthanen als Sclaven vorzustellen, so wäre, dünkt mich, ihre Absicht menschenfreundlich genug ge- wesen, und man hätte keine Ursach gehabt über dieselbe zu schreyen; denn solche Opfer können die schönen Künste der Menschheit wohl darbringen!
Gefährlich ist es, oft Gedanken an das Laster zu hegen, über alles gefährlich sich dasselbe in vortheilhaften, wenigstens nicht anstößigen Bildern zu denken*). Der Verführer ist der schädlich-
ste,
*) Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, scheinen mir die privilegirten Häuser der Wollust mit unter die Dinge zu gehören, die für das Wohl des Staats,
das
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Euer Auge nicht ein Gift einſauge, welches Eure Unſchuld vergeben kann.
Die Vorſtellung iſt die Mutter der That. Wer oft mit der Mutter umgeht, gewoͤhnt ſich auch leicht an den Umgang mit der Tochter. Wer ſich oft mit Vorſtellungen des Laſters unterhaͤlt, gewoͤhnt ſich ans Laſter, und die Gewohnheit iſt, wie Hamlet ſo wahr ſagt, „ein Ungeheuer, das, wie ein Teufel, alles Gefuͤhl des Laſters hinwegfrißt.„ — Wenn die Nationalverſamm- lung deswegen die Niederreißung der Statuͤe, welche Ludwig XIV. und zu ſeinen Fuͤßen die El- ſaſſer in Sclavenketten darſtellt, decretirte, daß die kuͤnftigen Koͤnige der Franzoſen durch dieſen Anblick nicht daran gewoͤhnt wuͤrden, ſich ihre Un- terthanen als Sclaven vorzuſtellen, ſo waͤre, duͤnkt mich, ihre Abſicht menſchenfreundlich genug ge- weſen, und man haͤtte keine Urſach gehabt uͤber dieſelbe zu ſchreyen; denn ſolche Opfer koͤnnen die ſchoͤnen Kuͤnſte der Menſchheit wohl darbringen!
Gefaͤhrlich iſt es, oft Gedanken an das Laſter zu hegen, uͤber alles gefaͤhrlich ſich daſſelbe in vortheilhaften, wenigſtens nicht anſtoͤßigen Bildern zu denken*). Der Verfuͤhrer iſt der ſchaͤdlich-
ſte,
*) Aus dieſem Geſichtspunkt betrachtet, ſcheinen mir die privilegirten Haͤuſer der Wolluſt mit unter die Dinge zu gehoͤren, die fuͤr das Wohl des Staats,
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Euer Auge nicht ein Gift einſauge, welches Eure
Unſchuld vergeben kann.
Die Vorſtellung iſt die Mutter der That.
Wer oft mit der Mutter umgeht, gewoͤhnt ſich
auch leicht an den Umgang mit der Tochter. Wer
ſich oft mit Vorſtellungen des Laſters unterhaͤlt,
gewoͤhnt ſich ans Laſter, und die Gewohnheit
iſt, wie Hamlet ſo wahr ſagt, „ein Ungeheuer,
das, wie ein Teufel, alles Gefuͤhl des Laſters
hinwegfrißt.„ — Wenn die Nationalverſamm-
lung deswegen die Niederreißung der Statuͤe,
welche Ludwig XIV. und zu ſeinen Fuͤßen die El-
ſaſſer in Sclavenketten darſtellt, decretirte, daß
die kuͤnftigen Koͤnige der Franzoſen durch dieſen
Anblick nicht daran gewoͤhnt wuͤrden, ſich ihre Un-
terthanen als Sclaven vorzuſtellen, ſo waͤre, duͤnkt
mich, ihre Abſicht menſchenfreundlich genug ge-
weſen, und man haͤtte keine Urſach gehabt uͤber
dieſelbe zu ſchreyen; denn ſolche Opfer koͤnnen die
ſchoͤnen Kuͤnſte der Menſchheit wohl darbringen!
Gefaͤhrlich iſt es, oft Gedanken an das Laſter
zu hegen, uͤber alles gefaͤhrlich ſich daſſelbe in
vortheilhaften, wenigſtens nicht anſtoͤßigen Bildern
zu denken *). Der Verfuͤhrer iſt der ſchaͤdlich-
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*) Aus dieſem Geſichtspunkt betrachtet, ſcheinen mir
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/305>, abgerufen am 16.02.2025.
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