Tief, zu tief, zu jammervoll ist dein Elend! Zerrißne, Wundenvolle, du bist ohn' ihn! -- --
So erbarmungslos ist Mancher gegen sich! So macht Mancher das, was nichts als seine Vor- stellung ist, zur Realität, getäuscht durch die Geneigtheit seiner Jmagination, ihre Vorstellungen nach der gegenwärtigen Stimmung des Herzens zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel:
Fühle nichts, als das Wirkliche im Ue- bel, und verstatte der Phantasie nicht, dich durch eingebildetes Unglück zu ängstigen.
Wie etwas auf unser Herz wirken soll, ob angenehm oder unangenehm, das hängt von der Art ab, wie wir es uns vorstellen. Eine und dieselbe Sache, wie verschieden wird sie von ver- schiednen Menschen empfunden! Der vernünftig und menschlich Denkende sieht in den äußern Gü- tern Hülfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens; der strenge und einseitige Schwärmer Dinge, welche die Tugend entehren; der Träge sieht die Arbeit als Mühseligkeit, der Fleißige als ein un- terhaltendes Geschäft an.
Daß man doch diese Wahrheit beherzige! Daß man doch seiner Einbildungskraft einschärfe, ihre Vorstellungen nach der Wahrheit und nicht ein- seitig und falsch zu bilden! Daß man sie doch ge-
wöhne,
S 2
Tief, zu tief, zu jammervoll iſt dein Elend! Zerrißne, Wundenvolle, du biſt ohn' ihn! — —
So erbarmungslos iſt Mancher gegen ſich! So macht Mancher das, was nichts als ſeine Vor- ſtellung iſt, zur Realitaͤt, getaͤuſcht durch die Geneigtheit ſeiner Jmagination, ihre Vorſtellungen nach der gegenwaͤrtigen Stimmung des Herzens zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel:
Fuͤhle nichts, als das Wirkliche im Ue- bel, und verſtatte der Phantaſie nicht, dich durch eingebildetes Ungluͤck zu aͤngſtigen.
Wie etwas auf unſer Herz wirken ſoll, ob angenehm oder unangenehm, das haͤngt von der Art ab, wie wir es uns vorſtellen. Eine und dieſelbe Sache, wie verſchieden wird ſie von ver- ſchiednen Menſchen empfunden! Der vernuͤnftig und menſchlich Denkende ſieht in den aͤußern Guͤ- tern Huͤlfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens; der ſtrenge und einſeitige Schwaͤrmer Dinge, welche die Tugend entehren; der Traͤge ſieht die Arbeit als Muͤhſeligkeit, der Fleißige als ein un- terhaltendes Geſchaͤft an.
Daß man doch dieſe Wahrheit beherzige! Daß man doch ſeiner Einbildungskraft einſchaͤrfe, ihre Vorſtellungen nach der Wahrheit und nicht ein- ſeitig und falſch zu bilden! Daß man ſie doch ge-
woͤhne,
S 2
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Tief, zu tief, zu jammervoll iſt dein Elend!
Zerrißne,
Wundenvolle, du biſt ohn' ihn! — —
So erbarmungslos iſt Mancher gegen ſich!
So macht Mancher das, was nichts als ſeine Vor-
ſtellung iſt, zur Realitaͤt, getaͤuſcht durch die
Geneigtheit ſeiner Jmagination, ihre Vorſtellungen
nach der gegenwaͤrtigen Stimmung des Herzens
zu bilden. Drum wiederhohl' ich die Regel:
Fuͤhle nichts, als das Wirkliche im Ue-
bel, und verſtatte der Phantaſie nicht, dich
durch eingebildetes Ungluͤck zu aͤngſtigen.
Wie etwas auf unſer Herz wirken ſoll, ob
angenehm oder unangenehm, das haͤngt von der
Art ab, wie wir es uns vorſtellen. Eine und
dieſelbe Sache, wie verſchieden wird ſie von ver-
ſchiednen Menſchen empfunden! Der vernuͤnftig
und menſchlich Denkende ſieht in den aͤußern Guͤ-
tern Huͤlfsmittel zur Bequemlichkeit des Lebens;
der ſtrenge und einſeitige Schwaͤrmer Dinge,
welche die Tugend entehren; der Traͤge ſieht die
Arbeit als Muͤhſeligkeit, der Fleißige als ein un-
terhaltendes Geſchaͤft an.
Daß man doch dieſe Wahrheit beherzige!
Daß man doch ſeiner Einbildungskraft einſchaͤrfe,
ihre Vorſtellungen nach der Wahrheit und nicht ein-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/299>, abgerufen am 16.02.2025.
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