kann, und wie wohl es sich dann leben läßt, das fühle der, dem irgend ein wichtiger und guter Zweck des Verstandes oder Herzens das Leben in- teressant macht.
"Aber wenn man auch die Phantasie gesund zu erhalten sucht, wenn man sich auch bemüht, ihr Geschmack an den Freuden, die sich uns dar- bieten, beyzubringen; wer kann es verhüten, daß die Leiden, die so wirklich wie die Freuden sind, sie nicht mit trüben Vorstellungen erfüllen?"
Wer wollte es auf sich nehmen, zu behaup- ten, daß die Leiden in der Welt nicht eben so wirklich als die Freuden wären, daß die Phan- sie für jene nicht eben so empfänglich sey, als für diese? Allein man erlaube ihr nur nicht zu dem, was wirklich in dem Leiden ist, noch mehr hinzu- zudichten.
Ach wenn das Gefühl des Menschen immer nur dem wirklichen Uebel angemessen wäre, wie viel würde es von seiner Bitterkeit verlieren! Aber man fühlt gemeiniglich nicht allein das wirk- lich drückende, sondern auch alle unangenehme Vorstellungen, welche durch das Gefühl des Lei- dens zum Bewußtseyn gezogen werden.
Der unglückliche Thomas in der Messiade ist betrübt über den Tod seines Lehrers. Seine Freunde kommen, ihm die Auferstehung desselben zu verkündigen; aber ach sein Herz und seine
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kann, und wie wohl es ſich dann leben laͤßt, das fuͤhle der, dem irgend ein wichtiger und guter Zweck des Verſtandes oder Herzens das Leben in- tereſſant macht.
„Aber wenn man auch die Phantaſie geſund zu erhalten ſucht, wenn man ſich auch bemuͤht, ihr Geſchmack an den Freuden, die ſich uns dar- bieten, beyzubringen; wer kann es verhuͤten, daß die Leiden, die ſo wirklich wie die Freuden ſind, ſie nicht mit truͤben Vorſtellungen erfuͤllen?„
Wer wollte es auf ſich nehmen, zu behaup- ten, daß die Leiden in der Welt nicht eben ſo wirklich als die Freuden waͤren, daß die Phan- ſie fuͤr jene nicht eben ſo empfaͤnglich ſey, als fuͤr dieſe? Allein man erlaube ihr nur nicht zu dem, was wirklich in dem Leiden iſt, noch mehr hinzu- zudichten.
Ach wenn das Gefuͤhl des Menſchen immer nur dem wirklichen Uebel angemeſſen waͤre, wie viel wuͤrde es von ſeiner Bitterkeit verlieren! Aber man fuͤhlt gemeiniglich nicht allein das wirk- lich druͤckende, ſondern auch alle unangenehme Vorſtellungen, welche durch das Gefuͤhl des Lei- dens zum Bewußtſeyn gezogen werden.
Der ungluͤckliche Thomas in der Meſſiade iſt betruͤbt uͤber den Tod ſeines Lehrers. Seine Freunde kommen, ihm die Auferſtehung deſſelben zu verkuͤndigen; aber ach ſein Herz und ſeine
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kann, und wie wohl es ſich dann leben laͤßt, das
fuͤhle der, dem irgend ein wichtiger und guter
Zweck des Verſtandes oder Herzens das Leben in-
tereſſant macht.
„Aber wenn man auch die Phantaſie geſund
zu erhalten ſucht, wenn man ſich auch bemuͤht,
ihr Geſchmack an den Freuden, die ſich uns dar-
bieten, beyzubringen; wer kann es verhuͤten,
daß die Leiden, die ſo wirklich wie die Freuden
ſind, ſie nicht mit truͤben Vorſtellungen erfuͤllen?„
Wer wollte es auf ſich nehmen, zu behaup-
ten, daß die Leiden in der Welt nicht eben ſo
wirklich als die Freuden waͤren, daß die Phan-
ſie fuͤr jene nicht eben ſo empfaͤnglich ſey, als fuͤr
dieſe? Allein man erlaube ihr nur nicht zu dem,
was wirklich in dem Leiden iſt, noch mehr hinzu-
zudichten.
Ach wenn das Gefuͤhl des Menſchen immer
nur dem wirklichen Uebel angemeſſen waͤre, wie
viel wuͤrde es von ſeiner Bitterkeit verlieren!
Aber man fuͤhlt gemeiniglich nicht allein das wirk-
lich druͤckende, ſondern auch alle unangenehme
Vorſtellungen, welche durch das Gefuͤhl des Lei-
dens zum Bewußtſeyn gezogen werden.
Der ungluͤckliche Thomas in der Meſſiade iſt
betruͤbt uͤber den Tod ſeines Lehrers. Seine
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zu verkuͤndigen; aber ach ſein Herz und ſeine
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/297>, abgerufen am 16.02.2025.
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