Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Möglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergrößern,
und was nicht da ist, zu schaffen. Es ist nicht
allein der gegenwärtige Schlag des Schicksals, der
das Herz des Leidenden verwundet; die größten
Schmerzen machen ihm die Angst, die Furcht
und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei-
dens. Was wird aus mir werden, wie wird
es mir ergehen? Das ist die gewöhnliche Sprache.
Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei-
dens sehr weit überstiege, jene werden nicht
wahrgenommen vor diesen, welche sich in Schaa-
ren vor die Seele drängen, und ihr den Blick ins
Freye und Heitere benehmen. Der Mensch sieht
gewöhnlich die Dinge, wovon er umgeben ist,
durch das aus der itzigen Stimmung seiner Seele
gefärbte Glas der Phantasie an; darum scheint
ihm in den Stunden des Kummers der ganze
Himmel in Wolken gehüllt zu seyn, und die Erde
den Zorn des Himmels zu fühlen. Wer hat
sich wohl nicht oft selbst schon gestraft, wenn der
Sturm des Leidens vorüber und das Herz in Ru-
he war, daß er sich von eitlen Phantasien quälen
ließ, die wie die Vögel der Nacht nur so lange
um das Herz schwärmen, als die Vernunft ver-
hindert wird, dasselbe mit ihren wohlthätigen
Strahlen zu erleuchten?

Wie oft thut die Einbildungskraft der güti-
gen Vorsehung unrecht, indem sie alle Züge der

Liebe

Moͤglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergroͤßern,
und was nicht da iſt, zu ſchaffen. Es iſt nicht
allein der gegenwaͤrtige Schlag des Schickſals, der
das Herz des Leidenden verwundet; die groͤßten
Schmerzen machen ihm die Angſt, die Furcht
und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei-
dens. Was wird aus mir werden, wie wird
es mir ergehen? Das iſt die gewoͤhnliche Sprache.
Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei-
dens ſehr weit uͤberſtiege, jene werden nicht
wahrgenommen vor dieſen, welche ſich in Schaa-
ren vor die Seele draͤngen, und ihr den Blick ins
Freye und Heitere benehmen. Der Menſch ſieht
gewoͤhnlich die Dinge, wovon er umgeben iſt,
durch das aus der itzigen Stimmung ſeiner Seele
gefaͤrbte Glas der Phantaſie an; darum ſcheint
ihm in den Stunden des Kummers der ganze
Himmel in Wolken gehuͤllt zu ſeyn, und die Erde
den Zorn des Himmels zu fuͤhlen. Wer hat
ſich wohl nicht oft ſelbſt ſchon geſtraft, wenn der
Sturm des Leidens voruͤber und das Herz in Ru-
he war, daß er ſich von eitlen Phantaſien quaͤlen
ließ, die wie die Voͤgel der Nacht nur ſo lange
um das Herz ſchwaͤrmen, als die Vernunft ver-
hindert wird, daſſelbe mit ihren wohlthaͤtigen
Strahlen zu erleuchten?

Wie oft thut die Einbildungskraft der guͤti-
gen Vorſehung unrecht, indem ſie alle Zuͤge der

Liebe
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0290" n="266"/>
Mo&#x0364;glichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergro&#x0364;ßern,<lb/>
und was nicht da i&#x017F;t, zu &#x017F;chaffen. Es i&#x017F;t nicht<lb/>
allein der gegenwa&#x0364;rtige Schlag des Schick&#x017F;als, der<lb/>
das Herz des Leidenden verwundet; die gro&#x0364;ßten<lb/>
Schmerzen machen ihm die Ang&#x017F;t, die Furcht<lb/>
und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei-<lb/>
dens. Was wird aus mir werden, wie wird<lb/>
es mir ergehen? Das i&#x017F;t die gewo&#x0364;hnliche Sprache.<lb/>
Und wenn auch die Zahl der Freuden <hi rendition="#b">die</hi> des Lei-<lb/>
dens &#x017F;ehr weit u&#x0364;ber&#x017F;tiege, jene werden nicht<lb/>
wahrgenommen vor die&#x017F;en, welche &#x017F;ich in Schaa-<lb/>
ren vor die Seele dra&#x0364;ngen, und ihr den Blick ins<lb/>
Freye und Heitere benehmen. Der Men&#x017F;ch &#x017F;ieht<lb/>
gewo&#x0364;hnlich die Dinge, wovon er umgeben i&#x017F;t,<lb/>
durch das aus der itzigen Stimmung &#x017F;einer Seele<lb/>
gefa&#x0364;rbte Glas der Phanta&#x017F;ie an; darum &#x017F;cheint<lb/>
ihm in den Stunden des Kummers der ganze<lb/>
Himmel in Wolken gehu&#x0364;llt zu &#x017F;eyn, und die Erde<lb/>
den Zorn des Himmels zu fu&#x0364;hlen. Wer hat<lb/>
&#x017F;ich wohl nicht oft &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chon ge&#x017F;traft, wenn der<lb/>
Sturm des Leidens voru&#x0364;ber und das Herz in Ru-<lb/>
he war, daß er &#x017F;ich von eitlen Phanta&#x017F;ien qua&#x0364;len<lb/>
ließ, die wie die Vo&#x0364;gel der Nacht nur &#x017F;o lange<lb/>
um das Herz &#x017F;chwa&#x0364;rmen, als die Vernunft ver-<lb/>
hindert wird, da&#x017F;&#x017F;elbe mit ihren wohltha&#x0364;tigen<lb/>
Strahlen zu erleuchten?</p><lb/>
            <p>Wie oft thut die Einbildungskraft der gu&#x0364;ti-<lb/>
gen Vor&#x017F;ehung unrecht, indem &#x017F;ie alle Zu&#x0364;ge der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Liebe</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[266/0290] Moͤglichkeiten, das wirkliche Uebel zu vergroͤßern, und was nicht da iſt, zu ſchaffen. Es iſt nicht allein der gegenwaͤrtige Schlag des Schickſals, der das Herz des Leidenden verwundet; die groͤßten Schmerzen machen ihm die Angſt, die Furcht und die Sorge wegen der Folgen des itzigen Lei- dens. Was wird aus mir werden, wie wird es mir ergehen? Das iſt die gewoͤhnliche Sprache. Und wenn auch die Zahl der Freuden die des Lei- dens ſehr weit uͤberſtiege, jene werden nicht wahrgenommen vor dieſen, welche ſich in Schaa- ren vor die Seele draͤngen, und ihr den Blick ins Freye und Heitere benehmen. Der Menſch ſieht gewoͤhnlich die Dinge, wovon er umgeben iſt, durch das aus der itzigen Stimmung ſeiner Seele gefaͤrbte Glas der Phantaſie an; darum ſcheint ihm in den Stunden des Kummers der ganze Himmel in Wolken gehuͤllt zu ſeyn, und die Erde den Zorn des Himmels zu fuͤhlen. Wer hat ſich wohl nicht oft ſelbſt ſchon geſtraft, wenn der Sturm des Leidens voruͤber und das Herz in Ru- he war, daß er ſich von eitlen Phantaſien quaͤlen ließ, die wie die Voͤgel der Nacht nur ſo lange um das Herz ſchwaͤrmen, als die Vernunft ver- hindert wird, daſſelbe mit ihren wohlthaͤtigen Strahlen zu erleuchten? Wie oft thut die Einbildungskraft der guͤti- gen Vorſehung unrecht, indem ſie alle Zuͤge der Liebe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/290
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/290>, abgerufen am 22.11.2024.