Zur religiösen Schwärmerey kann besonders der erste Unterricht in der Religion außerordent- lich leicht veranlassen. Wenn die Gottheit zu sinnlich dargestellt, zu viel auf Gefühle und Glau- ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und mystisch ist, und die unschuldigsten Aeußerungen menschlicher Neigungen und Gefühle zur Sünde gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die Phantasie nicht mit schädlichen wunderbaren ver- worrnen Vorstellungen erfüllt wird, welche das Gemüth beunruhigen und aus seinem Gleichge- wicht bringen können? Oft sind es die Aus- schweifungen der frühern Jahre besonders in der Wollust, welche die Natur aus ihrem Gleise drängen, und ihr auf diese Weise an dem Elen- den selbst die schrecklichste Rache verschaffen. Denn die edelsten Säfte werden dadurch verzehrt, die Nerven erschlafft, ihr ganzes Gebäude wird erschüt- tert, und die Phantasie äußerst reizbar und un- ordentlich. Dazu kömmt von der andern Seite die Qual des Gewissens, und der Unglückliche kömmt in ein Gedränge, das ihn in ewigen Krei- sen herumjagt, und alle Besonnenheit wegnimmt.
Das sicherste Mittel sich vor dieser Unord- nung in seiner Natur zu verwahren, ist Ordnung in seiner Lebensart. Wer durch treues Arbeiten an sich selbst, alle seine Kräfte ins Gleichgewicht zu bringen und sie darin zu erhalten sucht, seinen
Ver-
Zur religioͤſen Schwaͤrmerey kann beſonders der erſte Unterricht in der Religion außerordent- lich leicht veranlaſſen. Wenn die Gottheit zu ſinnlich dargeſtellt, zu viel auf Gefuͤhle und Glau- ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und myſtiſch iſt, und die unſchuldigſten Aeußerungen menſchlicher Neigungen und Gefuͤhle zur Suͤnde gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die Phantaſie nicht mit ſchaͤdlichen wunderbaren ver- worrnen Vorſtellungen erfuͤllt wird, welche das Gemuͤth beunruhigen und aus ſeinem Gleichge- wicht bringen koͤnnen? Oft ſind es die Aus- ſchweifungen der fruͤhern Jahre beſonders in der Wolluſt, welche die Natur aus ihrem Gleiſe draͤngen, und ihr auf dieſe Weiſe an dem Elen- den ſelbſt die ſchrecklichſte Rache verſchaffen. Denn die edelſten Saͤfte werden dadurch verzehrt, die Nerven erſchlafft, ihr ganzes Gebaͤude wird erſchuͤt- tert, und die Phantaſie aͤußerſt reizbar und un- ordentlich. Dazu koͤmmt von der andern Seite die Qual des Gewiſſens, und der Ungluͤckliche koͤmmt in ein Gedraͤnge, das ihn in ewigen Krei- ſen herumjagt, und alle Beſonnenheit wegnimmt.
Das ſicherſte Mittel ſich vor dieſer Unord- nung in ſeiner Natur zu verwahren, iſt Ordnung in ſeiner Lebensart. Wer durch treues Arbeiten an ſich ſelbſt, alle ſeine Kraͤfte ins Gleichgewicht zu bringen und ſie darin zu erhalten ſucht, ſeinen
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Zur religioͤſen Schwaͤrmerey kann beſonders
der erſte Unterricht in der Religion außerordent-
lich leicht veranlaſſen. Wenn die Gottheit zu
ſinnlich dargeſtellt, zu viel auf Gefuͤhle und Glau-
ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und
myſtiſch iſt, und die unſchuldigſten Aeußerungen
menſchlicher Neigungen und Gefuͤhle zur Suͤnde
gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die
Phantaſie nicht mit ſchaͤdlichen wunderbaren ver-
worrnen Vorſtellungen erfuͤllt wird, welche das
Gemuͤth beunruhigen und aus ſeinem Gleichge-
wicht bringen koͤnnen? Oft ſind es die Aus-
ſchweifungen der fruͤhern Jahre beſonders in der
Wolluſt, welche die Natur aus ihrem Gleiſe
draͤngen, und ihr auf dieſe Weiſe an dem Elen-
den ſelbſt die ſchrecklichſte Rache verſchaffen. Denn
die edelſten Saͤfte werden dadurch verzehrt, die
Nerven erſchlafft, ihr ganzes Gebaͤude wird erſchuͤt-
tert, und die Phantaſie aͤußerſt reizbar und un-
ordentlich. Dazu koͤmmt von der andern Seite
die Qual des Gewiſſens, und der Ungluͤckliche
koͤmmt in ein Gedraͤnge, das ihn in ewigen Krei-
ſen herumjagt, und alle Beſonnenheit wegnimmt.
Das ſicherſte Mittel ſich vor dieſer Unord-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/286>, abgerufen am 22.11.2024.
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