Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
"Höre Natur, so spricht der Vater, höre
theure Göttin, vernimm mich! Hemme deinen
Vorsatz, wenn du dies Geschöpf fruchtbar ma-
chen wolltest! Banne Unfruchtbarkeit in ihren
Schoos! trockne die Werkzeuge der Vermehrung
in ihr auf, und laß nie aus ihrem entarteten
Leibe einen Säugling entspringen, der ihr Ehre er-
weißt. Muß sie aber gebähren, so erschaff' ihr
ein Kind aus Galle, und laß es leben, sie ohne
Rast mit unnatürlicher Bosheit zu peinigen! Laß
es Runzeln in ihre junge Stirn graben, und mit
immerfort rollenden Thränen Kanäle in ihre
Wangen ätzen! Laß es alle ihre mütterliche
Schmerzen mit Hohngelächter, alle ihre Wohl-
thaten mit Verachtung erwiedern, damit sie fühle,
wie viel schärfer als ein Schlangenbiß es ist, ein
undankbares Kind zu haben!"
*)

Er verläßt in dieser Stimmung seines Ge-
müths diese Tochter; der festen Hofnung, Regan
werde ihn kindlicher behandeln, und über die Be-
handlung ihrer Schwester, wie er selbst, erbittert
werden.

Es konnte nicht fehlen, daß dem Vater bey
dieser abscheulichen Begegnung von seiner Tochter,
sein hartes Verfahren gegen seine Kordelia einfal-
len, und die Verwirrung und Zerreißung seines
Gemüths befördern mußte. Der Dichter hat

diesen
*) König Lear. 1. Aufz. 4. Auftritt.
„Hoͤre Natur, ſo ſpricht der Vater, hoͤre
theure Goͤttin, vernimm mich! Hemme deinen
Vorſatz, wenn du dies Geſchoͤpf fruchtbar ma-
chen wollteſt! Banne Unfruchtbarkeit in ihren
Schoos! trockne die Werkzeuge der Vermehrung
in ihr auf, und laß nie aus ihrem entarteten
Leibe einen Saͤugling entſpringen, der ihr Ehre er-
weißt. Muß ſie aber gebaͤhren, ſo erſchaff' ihr
ein Kind aus Galle, und laß es leben, ſie ohne
Raſt mit unnatuͤrlicher Bosheit zu peinigen! Laß
es Runzeln in ihre junge Stirn graben, und mit
immerfort rollenden Thraͤnen Kanaͤle in ihre
Wangen aͤtzen! Laß es alle ihre muͤtterliche
Schmerzen mit Hohngelaͤchter, alle ihre Wohl-
thaten mit Verachtung erwiedern, damit ſie fuͤhle,
wie viel ſchaͤrfer als ein Schlangenbiß es iſt, ein
undankbares Kind zu haben!„
*)

Er verlaͤßt in dieſer Stimmung ſeines Ge-
muͤths dieſe Tochter; der feſten Hofnung, Regan
werde ihn kindlicher behandeln, und uͤber die Be-
handlung ihrer Schweſter, wie er ſelbſt, erbittert
werden.

Es konnte nicht fehlen, daß dem Vater bey
dieſer abſcheulichen Begegnung von ſeiner Tochter,
ſein hartes Verfahren gegen ſeine Kordelia einfal-
len, und die Verwirrung und Zerreißung ſeines
Gemuͤths befoͤrdern mußte. Der Dichter hat

dieſen
*) Koͤnig Lear. 1. Aufz. 4. Auftritt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0220" n="196"/>
          <cit>
            <quote>&#x201E;Ho&#x0364;re Natur, &#x017F;o &#x017F;pricht der <hi rendition="#b">Vater</hi>, ho&#x0364;re<lb/>
theure Go&#x0364;ttin, vernimm mich! Hemme deinen<lb/>
Vor&#x017F;atz, wenn du dies Ge&#x017F;cho&#x0364;pf fruchtbar ma-<lb/>
chen wollte&#x017F;t! Banne Unfruchtbarkeit in ihren<lb/>
Schoos! trockne die Werkzeuge der Vermehrung<lb/>
in ihr auf, und laß nie aus ihrem entarteten<lb/>
Leibe einen Sa&#x0364;ugling ent&#x017F;pringen, der ihr Ehre er-<lb/>
weißt. Muß &#x017F;ie aber geba&#x0364;hren, &#x017F;o er&#x017F;chaff' ihr<lb/>
ein Kind aus Galle, und laß es leben, &#x017F;ie ohne<lb/>
Ra&#x017F;t mit unnatu&#x0364;rlicher Bosheit zu peinigen! Laß<lb/>
es Runzeln in ihre junge Stirn graben, und mit<lb/>
immerfort rollenden Thra&#x0364;nen Kana&#x0364;le in ihre<lb/>
Wangen a&#x0364;tzen! Laß es alle ihre mu&#x0364;tterliche<lb/>
Schmerzen mit Hohngela&#x0364;chter, alle ihre Wohl-<lb/>
thaten mit Verachtung erwiedern, damit &#x017F;ie fu&#x0364;hle,<lb/>
wie viel &#x017F;cha&#x0364;rfer als ein Schlangenbiß es i&#x017F;t, ein<lb/>
undankbares Kind zu haben!&#x201E;</quote>
          </cit>
          <note place="foot" n="*)">Ko&#x0364;nig Lear. 1. Aufz. 4. Auftritt.</note><lb/>
          <p>Er verla&#x0364;ßt in die&#x017F;er Stimmung &#x017F;eines Ge-<lb/>
mu&#x0364;ths die&#x017F;e Tochter; der fe&#x017F;ten Hofnung, Regan<lb/>
werde ihn kindlicher behandeln, und u&#x0364;ber die Be-<lb/>
handlung ihrer Schwe&#x017F;ter, wie er &#x017F;elb&#x017F;t, erbittert<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p>Es konnte nicht fehlen, daß dem Vater bey<lb/>
die&#x017F;er ab&#x017F;cheulichen Begegnung von &#x017F;einer Tochter,<lb/>
&#x017F;ein hartes Verfahren gegen &#x017F;eine Kordelia einfal-<lb/>
len, und die Verwirrung und Zerreißung &#x017F;eines<lb/>
Gemu&#x0364;ths befo&#x0364;rdern mußte. Der Dichter hat<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die&#x017F;en</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[196/0220] „Hoͤre Natur, ſo ſpricht der Vater, hoͤre theure Goͤttin, vernimm mich! Hemme deinen Vorſatz, wenn du dies Geſchoͤpf fruchtbar ma- chen wollteſt! Banne Unfruchtbarkeit in ihren Schoos! trockne die Werkzeuge der Vermehrung in ihr auf, und laß nie aus ihrem entarteten Leibe einen Saͤugling entſpringen, der ihr Ehre er- weißt. Muß ſie aber gebaͤhren, ſo erſchaff' ihr ein Kind aus Galle, und laß es leben, ſie ohne Raſt mit unnatuͤrlicher Bosheit zu peinigen! Laß es Runzeln in ihre junge Stirn graben, und mit immerfort rollenden Thraͤnen Kanaͤle in ihre Wangen aͤtzen! Laß es alle ihre muͤtterliche Schmerzen mit Hohngelaͤchter, alle ihre Wohl- thaten mit Verachtung erwiedern, damit ſie fuͤhle, wie viel ſchaͤrfer als ein Schlangenbiß es iſt, ein undankbares Kind zu haben!„ *) Er verlaͤßt in dieſer Stimmung ſeines Ge- muͤths dieſe Tochter; der feſten Hofnung, Regan werde ihn kindlicher behandeln, und uͤber die Be- handlung ihrer Schweſter, wie er ſelbſt, erbittert werden. Es konnte nicht fehlen, daß dem Vater bey dieſer abſcheulichen Begegnung von ſeiner Tochter, ſein hartes Verfahren gegen ſeine Kordelia einfal- len, und die Verwirrung und Zerreißung ſeines Gemuͤths befoͤrdern mußte. Der Dichter hat dieſen *) Koͤnig Lear. 1. Aufz. 4. Auftritt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/220
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/220>, abgerufen am 25.11.2024.