Zuweilen scheint sogar der Wahnwitz dem Verstande derer, welche an ihm erkrankt sind, einen starken Schwung und einen höhern Grad von Vollkommenheit zu geben, als er im gesun- den Zustande hatte: ein deutlicher Beweis von der unmäßigen Anstrengung und unwiderstehlichen Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil- len fortgerissen und angespannt wird. Ein Pre- diger predigte im Wahnwitz in Versen, und ein Bauer hielt pathetische Reden an die um ihn her Versammleten.
Daß aber die Verrücktheit solche Kenntnisse inspirire, welche vernünftige Menschen nicht an- ders, als durch Erlernung erhalten können: daß zum Beyspiel der Wahnwitzige mit fremden Zun- gen reden, nie von ihm erlernte Wissenschaften vortragen könne, ist eine Fabel, so viel Erfah- rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu haben meynt. Alle Erzählungen, aus welchen dieses behauptet werden soll, sind entweder aus unrichtigen Beobachtungen entsprungen, oder der Verrückte hat wirklich einmal, ohne daß er sich selbst, wenn er auch wieder zu Verstande kam, vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehört oder gelesen, wovon man glaubt, daß es ihm nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben habe.
Eilfte
M 2
Zuweilen ſcheint ſogar der Wahnwitz dem Verſtande derer, welche an ihm erkrankt ſind, einen ſtarken Schwung und einen hoͤhern Grad von Vollkommenheit zu geben, als er im geſun- den Zuſtande hatte: ein deutlicher Beweis von der unmaͤßigen Anſtrengung und unwiderſtehlichen Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil- len fortgeriſſen und angeſpannt wird. Ein Pre- diger predigte im Wahnwitz in Verſen, und ein Bauer hielt pathetiſche Reden an die um ihn her Verſammleten.
Daß aber die Verruͤcktheit ſolche Kenntniſſe inſpirire, welche vernuͤnftige Menſchen nicht an- ders, als durch Erlernung erhalten koͤnnen: daß zum Beyſpiel der Wahnwitzige mit fremden Zun- gen reden, nie von ihm erlernte Wiſſenſchaften vortragen koͤnne, iſt eine Fabel, ſo viel Erfah- rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu haben meynt. Alle Erzaͤhlungen, aus welchen dieſes behauptet werden ſoll, ſind entweder aus unrichtigen Beobachtungen entſprungen, oder der Verruͤckte hat wirklich einmal, ohne daß er ſich ſelbſt, wenn er auch wieder zu Verſtande kam, vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehoͤrt oder geleſen, wovon man glaubt, daß es ihm nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben habe.
Eilfte
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Zuweilen ſcheint ſogar der Wahnwitz dem
Verſtande derer, welche an ihm erkrankt ſind,
einen ſtarken Schwung und einen hoͤhern Grad
von Vollkommenheit zu geben, als er im geſun-
den Zuſtande hatte: ein deutlicher Beweis von
der unmaͤßigen Anſtrengung und unwiderſtehlichen
Gewalt, mit welcher die Seele ohne ihren Wil-
len fortgeriſſen und angeſpannt wird. Ein Pre-
diger predigte im Wahnwitz in Verſen, und ein
Bauer hielt pathetiſche Reden an die um ihn her
Verſammleten.
Daß aber die Verruͤcktheit ſolche Kenntniſſe
inſpirire, welche vernuͤnftige Menſchen nicht an-
ders, als durch Erlernung erhalten koͤnnen: daß
zum Beyſpiel der Wahnwitzige mit fremden Zun-
gen reden, nie von ihm erlernte Wiſſenſchaften
vortragen koͤnne, iſt eine Fabel, ſo viel Erfah-
rungen man auch zum Beweis der Wahrheit zu
haben meynt. Alle Erzaͤhlungen, aus welchen
dieſes behauptet werden ſoll, ſind entweder aus
unrichtigen Beobachtungen entſprungen, oder der
Verruͤckte hat wirklich einmal, ohne daß er ſich
ſelbſt, wenn er auch wieder zu Verſtande kam,
vielleicht daran erinnern konnte, dasjenige gehoͤrt
oder geleſen, wovon man glaubt, daß es ihm
nichts anders, als der Wahnwitz, eingegeben
habe.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/203>, abgerufen am 24.11.2024.
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