ein junges Mädchen, welches an dem Zürchersee gelebt hatte, in dem Spital an. Dieselbe schien von gutem, aber sehr empfindlichem Gemüthe zu seyn. Sie war in Hausdiensten, und ein Ver- wandter ihres Meisters übernahm es, diese junge Person, die vorher sehr lustig und aufgeweckt war, den Gefahren des jugendlichen Leichtsinns zu entreißen. Jhren Kopf füllte er bald mit al- lerley trüben Gedanken, wodurch sie in Zeit von einem Jahr in Schwermuth gestürzt ward. End- lich brach diese Schwermuth bey einem nächtlichen Gewitter in wirklichen Wahnsinn aus. Jhre schon verworrene Einbildungskraft beredete diesel- be, daß der Blitz vom Himmel gesendt werde, sie für ihren vorigen Leichtsinn zu strafen; schon glaubte sie den letzten Gerichtstag anrücken zu se- hen; sie fing an zu schwärmen. Das Gewitter hörte auf, allein mit demselben ihr Wahnsinn nicht.
Jn einem andern Zimmer desselben Spitals befand sich ein junges Mädchen von guter Bil- dung. Den ganzen langen Tag stand dasselbe mit gesenktem Kopfe, wie eine Mauer unbeweg- lich und eben so stumm. Nach langen, oft wie- derhohlten Versuchen, und fast mit Gewalt brach- te man zuletzt nichts heraus, als ein bejahendes oder verneinendes Kopfnicken. Auf die Frage: Hat man dir was Leids zugefügt? wars ein
Nein.
ein junges Maͤdchen, welches an dem Zuͤrcherſee gelebt hatte, in dem Spital an. Dieſelbe ſchien von gutem, aber ſehr empfindlichem Gemuͤthe zu ſeyn. Sie war in Hausdienſten, und ein Ver- wandter ihres Meiſters uͤbernahm es, dieſe junge Perſon, die vorher ſehr luſtig und aufgeweckt war, den Gefahren des jugendlichen Leichtſinns zu entreißen. Jhren Kopf fuͤllte er bald mit al- lerley truͤben Gedanken, wodurch ſie in Zeit von einem Jahr in Schwermuth geſtuͤrzt ward. End- lich brach dieſe Schwermuth bey einem naͤchtlichen Gewitter in wirklichen Wahnſinn aus. Jhre ſchon verworrene Einbildungskraft beredete dieſel- be, daß der Blitz vom Himmel geſendt werde, ſie fuͤr ihren vorigen Leichtſinn zu ſtrafen; ſchon glaubte ſie den letzten Gerichtstag anruͤcken zu ſe- hen; ſie fing an zu ſchwaͤrmen. Das Gewitter hoͤrte auf, allein mit demſelben ihr Wahnſinn nicht.
Jn einem andern Zimmer deſſelben Spitals befand ſich ein junges Maͤdchen von guter Bil- dung. Den ganzen langen Tag ſtand daſſelbe mit geſenktem Kopfe, wie eine Mauer unbeweg- lich und eben ſo ſtumm. Nach langen, oft wie- derhohlten Verſuchen, und faſt mit Gewalt brach- te man zuletzt nichts heraus, als ein bejahendes oder verneinendes Kopfnicken. Auf die Frage: Hat man dir was Leids zugefuͤgt? wars ein
Nein.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0196"n="172"/>
ein junges Maͤdchen, welches an dem Zuͤrcherſee<lb/>
gelebt hatte, in dem Spital an. Dieſelbe ſchien<lb/>
von gutem, aber ſehr empfindlichem Gemuͤthe zu<lb/>ſeyn. Sie war in Hausdienſten, und ein Ver-<lb/>
wandter ihres Meiſters uͤbernahm es, dieſe junge<lb/>
Perſon, die vorher ſehr luſtig und aufgeweckt<lb/>
war, den Gefahren des jugendlichen Leichtſinns<lb/>
zu entreißen. Jhren Kopf fuͤllte er bald mit al-<lb/>
lerley truͤben Gedanken, wodurch ſie in Zeit von<lb/>
einem Jahr in Schwermuth geſtuͤrzt ward. End-<lb/>
lich brach dieſe Schwermuth bey einem naͤchtlichen<lb/>
Gewitter in wirklichen Wahnſinn aus. Jhre<lb/>ſchon verworrene Einbildungskraft beredete dieſel-<lb/>
be, daß der Blitz vom Himmel geſendt werde, ſie<lb/>
fuͤr ihren vorigen Leichtſinn zu ſtrafen; ſchon<lb/>
glaubte ſie den letzten Gerichtstag anruͤcken zu ſe-<lb/>
hen; ſie fing an zu ſchwaͤrmen. Das Gewitter<lb/>
hoͤrte auf, allein mit demſelben ihr Wahnſinn<lb/>
nicht.</p><lb/><p>Jn einem andern Zimmer deſſelben Spitals<lb/>
befand ſich ein junges Maͤdchen von guter Bil-<lb/>
dung. Den ganzen langen Tag ſtand daſſelbe<lb/>
mit geſenktem Kopfe, wie eine Mauer unbeweg-<lb/>
lich und eben ſo ſtumm. Nach langen, oft wie-<lb/>
derhohlten Verſuchen, und faſt mit Gewalt brach-<lb/>
te man zuletzt nichts heraus, als ein bejahendes<lb/>
oder verneinendes Kopfnicken. Auf die Frage:<lb/><hirendition="#b">Hat man dir was Leids zugefuͤgt</hi>? wars ein<lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#b">Nein.</hi></fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[172/0196]
ein junges Maͤdchen, welches an dem Zuͤrcherſee
gelebt hatte, in dem Spital an. Dieſelbe ſchien
von gutem, aber ſehr empfindlichem Gemuͤthe zu
ſeyn. Sie war in Hausdienſten, und ein Ver-
wandter ihres Meiſters uͤbernahm es, dieſe junge
Perſon, die vorher ſehr luſtig und aufgeweckt
war, den Gefahren des jugendlichen Leichtſinns
zu entreißen. Jhren Kopf fuͤllte er bald mit al-
lerley truͤben Gedanken, wodurch ſie in Zeit von
einem Jahr in Schwermuth geſtuͤrzt ward. End-
lich brach dieſe Schwermuth bey einem naͤchtlichen
Gewitter in wirklichen Wahnſinn aus. Jhre
ſchon verworrene Einbildungskraft beredete dieſel-
be, daß der Blitz vom Himmel geſendt werde, ſie
fuͤr ihren vorigen Leichtſinn zu ſtrafen; ſchon
glaubte ſie den letzten Gerichtstag anruͤcken zu ſe-
hen; ſie fing an zu ſchwaͤrmen. Das Gewitter
hoͤrte auf, allein mit demſelben ihr Wahnſinn
nicht.
Jn einem andern Zimmer deſſelben Spitals
befand ſich ein junges Maͤdchen von guter Bil-
dung. Den ganzen langen Tag ſtand daſſelbe
mit geſenktem Kopfe, wie eine Mauer unbeweg-
lich und eben ſo ſtumm. Nach langen, oft wie-
derhohlten Verſuchen, und faſt mit Gewalt brach-
te man zuletzt nichts heraus, als ein bejahendes
oder verneinendes Kopfnicken. Auf die Frage:
Hat man dir was Leids zugefuͤgt? wars ein
Nein.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/196>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.