sie nicht, und was nicht ist, empfinden sie. Kei- ne Spur von Verstand -- nehmt ihnen die Men- schengestalt, und sie sind den Thieren ganz gleich. Keine Vorstellungen, keine Beweise können den Unsinnigen von dem Ungrunde seines Unsinns über- zeugen; denn, ach! er kann dieselben nicht fassen, nicht einsehen.
Es glaubte jemand, erzählt Marcellus Do- natus, einen so großen Leib zu haben, daß er nicht durch die Thür seiner Schlafkammer kom- men könne. Er war daher durch nichts zu be- wegen, aus dieser nicht kleinen und engen Thür zu gehen. Endlich befahl sein Arzt, man solle ihn mit Gewalt herausschaffen. Dies geschah. Allein der Wahnsinnige glaubte nun alle seine Gliedmaßen wären zerbrochen, schalt die, welche ihn herausgetragen hatten, seine Mörder, und starb.
Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe, schreyt ein Unsinniger, denn ich würde schmelzen, weil ich aus Butter geformt bin; hütet euch, ruft ein andrer, an mich zu stoßen, denn ich würde zerbrechen, weil ich von Glas bin.
Dem Unsinnigen fehlt sein Selbstgefühl ganz: der Blödsinnige hat es doch zum Theil, und wenigstens zuweilen lichte Zwischenräume. Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver- nünftig redet, und nur dann, wenn er aus sei-
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ſie nicht, und was nicht iſt, empfinden ſie. Kei- ne Spur von Verſtand — nehmt ihnen die Men- ſchengeſtalt, und ſie ſind den Thieren ganz gleich. Keine Vorſtellungen, keine Beweiſe koͤnnen den Unſinnigen von dem Ungrunde ſeines Unſinns uͤber- zeugen; denn, ach! er kann dieſelben nicht faſſen, nicht einſehen.
Es glaubte jemand, erzaͤhlt Marcellus Do- natus, einen ſo großen Leib zu haben, daß er nicht durch die Thuͤr ſeiner Schlafkammer kom- men koͤnne. Er war daher durch nichts zu be- wegen, aus dieſer nicht kleinen und engen Thuͤr zu gehen. Endlich befahl ſein Arzt, man ſolle ihn mit Gewalt herausſchaffen. Dies geſchah. Allein der Wahnſinnige glaubte nun alle ſeine Gliedmaßen waͤren zerbrochen, ſchalt die, welche ihn herausgetragen hatten, ſeine Moͤrder, und ſtarb.
Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe, ſchreyt ein Unſinniger, denn ich wuͤrde ſchmelzen, weil ich aus Butter geformt bin; huͤtet euch, ruft ein andrer, an mich zu ſtoßen, denn ich wuͤrde zerbrechen, weil ich von Glas bin.
Dem Unſinnigen fehlt ſein Selbſtgefuͤhl ganz: der Bloͤdſinnige hat es doch zum Theil, und wenigſtens zuweilen lichte Zwiſchenraͤume. Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver- nuͤnftig redet, und nur dann, wenn er aus ſei-
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ſie nicht, und was nicht iſt, empfinden ſie. Kei-
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ſchengeſtalt, und ſie ſind den Thieren ganz gleich.
Keine Vorſtellungen, keine Beweiſe koͤnnen den
Unſinnigen von dem Ungrunde ſeines Unſinns uͤber-
zeugen; denn, ach! er kann dieſelben nicht faſſen,
nicht einſehen.
Es glaubte jemand, erzaͤhlt Marcellus Do-
natus, einen ſo großen Leib zu haben, daß er
nicht durch die Thuͤr ſeiner Schlafkammer kom-
men koͤnne. Er war daher durch nichts zu be-
wegen, aus dieſer nicht kleinen und engen Thuͤr
zu gehen. Endlich befahl ſein Arzt, man ſolle
ihn mit Gewalt herausſchaffen. Dies geſchah.
Allein der Wahnſinnige glaubte nun alle ſeine
Gliedmaßen waͤren zerbrochen, ſchalt die, welche
ihn herausgetragen hatten, ſeine Moͤrder, und
ſtarb.
Bringt mich ja nicht dem Feuer zu nahe,
ſchreyt ein Unſinniger, denn ich wuͤrde ſchmelzen,
weil ich aus Butter geformt bin; huͤtet euch, ruft
ein andrer, an mich zu ſtoßen, denn ich wuͤrde
zerbrechen, weil ich von Glas bin.
Dem Unſinnigen fehlt ſein Selbſtgefuͤhl
ganz: der Bloͤdſinnige hat es doch zum Theil,
und wenigſtens zuweilen lichte Zwiſchenraͤume.
Es giebt Zeiten, wo er wahr empfindet und ver-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/191>, abgerufen am 16.02.2025.
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