sten Nüancen andern mittheilen könnte. Für den Verstand ist sie zu körperlich und nicht bieg- sam genug, und für die Mittheilung zu schwan- kend, zu vieldeutig. Man muß sich schon ziem- lich verstehen, wenn man einander durch Gebehr- den und Minen bestimmte Situationen mittheilen will, und wird ungewöhnliche und unbekannte Begebenheiten, historische Fakta, selbst seinem andern Jch auf diese Weise nie mittheilen können; denn selbst das vollkommenste Gebehrdenspiel kann, wie der vortrefliche Engel in seiner Mimik*) er- innert, nur auf so oder so eine Situation herumrathen, aber nichts mit Deutlichkeit, nichts mit Gewißheit erkennen lassen.
Hierzu bedurfte es einer Wortsprache, einer Sprache durch artikulirte, mit bestimmten Vor- stellungen verknüpften Töne, deren Erfindung unter die größten Wohlthaten, welche der Mensch dem Menschengeschlechte geleistet hat, zu zählen ist, wie der Dichter so schön und dichterisch beweist.
Heil dir! unsichtbar Kind des Menschen- hauchs Der Engel Schwester, süße Sprache du! Ohn' deren treuen Dienst das volle Herz Erläge unter der Empfindung Last. Kein Lied von Alters her besuchte je Ein menschlich Ohr; die Vorwelt wäre stumm:
Ver-
*) Jdeen zu einer Mimik. 2. Th. 29. Br. 32. S.
K 2
ſten Nuͤancen andern mittheilen koͤnnte. Fuͤr den Verſtand iſt ſie zu koͤrperlich und nicht bieg- ſam genug, und fuͤr die Mittheilung zu ſchwan- kend, zu vieldeutig. Man muß ſich ſchon ziem- lich verſtehen, wenn man einander durch Gebehr- den und Minen beſtimmte Situationen mittheilen will, und wird ungewoͤhnliche und unbekannte Begebenheiten, hiſtoriſche Fakta, ſelbſt ſeinem andern Jch auf dieſe Weiſe nie mittheilen koͤnnen; denn ſelbſt das vollkommenſte Gebehrdenſpiel kann, wie der vortrefliche Engel in ſeiner Mimik*) er- innert, nur auf ſo oder ſo eine Situation herumrathen, aber nichts mit Deutlichkeit, nichts mit Gewißheit erkennen laſſen.
Hierzu bedurfte es einer Wortſprache, einer Sprache durch artikulirte, mit beſtimmten Vor- ſtellungen verknuͤpften Toͤne, deren Erfindung unter die groͤßten Wohlthaten, welche der Menſch dem Menſchengeſchlechte geleiſtet hat, zu zaͤhlen iſt, wie der Dichter ſo ſchoͤn und dichteriſch beweiſt.
Heil dir! unſichtbar Kind des Menſchen- hauchs Der Engel Schweſter, ſuͤße Sprache du! Ohn' deren treuen Dienſt das volle Herz Erlaͤge unter der Empfindung Laſt. Kein Lied von Alters her beſuchte je Ein menſchlich Ohr; die Vorwelt waͤre ſtumm:
Ver-
*) Jdeen zu einer Mimik. 2. Th. 29. Br. 32. S.
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ſten Nuͤancen andern mittheilen koͤnnte. Fuͤr
den Verſtand iſt ſie zu koͤrperlich und nicht bieg-
ſam genug, und fuͤr die Mittheilung zu ſchwan-
kend, zu vieldeutig. Man muß ſich ſchon ziem-
lich verſtehen, wenn man einander durch Gebehr-
den und Minen beſtimmte Situationen mittheilen
will, und wird ungewoͤhnliche und unbekannte
Begebenheiten, hiſtoriſche Fakta, ſelbſt ſeinem
andern Jch auf dieſe Weiſe nie mittheilen koͤnnen;
denn ſelbſt das vollkommenſte Gebehrdenſpiel kann,
wie der vortrefliche Engel in ſeiner Mimik *) er-
innert, nur auf ſo oder ſo eine Situation
herumrathen, aber nichts mit Deutlichkeit,
nichts mit Gewißheit erkennen laſſen.
Hierzu bedurfte es einer Wortſprache, einer
Sprache durch artikulirte, mit beſtimmten Vor-
ſtellungen verknuͤpften Toͤne, deren Erfindung
unter die groͤßten Wohlthaten, welche der Menſch
dem Menſchengeſchlechte geleiſtet hat, zu zaͤhlen iſt,
wie der Dichter ſo ſchoͤn und dichteriſch beweiſt.
Heil dir! unſichtbar Kind des Menſchen-
hauchs
Der Engel Schweſter, ſuͤße Sprache du!
Ohn' deren treuen Dienſt das volle Herz
Erlaͤge unter der Empfindung Laſt.
Kein Lied von Alters her beſuchte je
Ein menſchlich Ohr; die Vorwelt waͤre ſtumm:
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*) Jdeen zu einer Mimik. 2. Th. 29. Br. 32. S.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/171>, abgerufen am 16.02.2025.
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