Jene geben die Erzählung eines Andern mit eben so viel Worten wieder, können Zahlen und Na- men sehr leicht behalten. Wem es daher darum zu thun ist, etwas genau, so wie er es hörte oder las, sich wieder ins Gedächtniß zu rufen, wie z. B. dem Historiker und Chronologen, der muß ein Zeichengedächtniß haben. Bey dem Sach- gedächtniß ist schon mehr Selbstthätigkeit des Ver- standes; denn man muß sich, um den Geist der Vorstellung zu fassen, dieselben nach ihren we- sentlichen Merkmalen verdeutlichen, welches ein Geschäft des Verstandes ist. Dieses ist es, was Herr Garve in seiner vortreflichen Abhandlung über die Prüfung der Fähigkeiten das raisonniren- de Gedächtniß nennt, und wovon er sagt, daß es ein sehr sicher Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verstandes selbst sey.
Aus dieser Unterscheidung wird nun auch die Frage beantwortet werden können, ob es wahr sey, was man so häufig hören muß, daß ein gu- tes Gedächtniß das Zeichen eines schlechten, me- chanischen Kopfes sey?
Wo sich blos eine Fertigkeit zeigt, Gedan- kenzeichen zu behalten, die etwas Willkührliches, und einmal Festgesetztes sind; da kann man aller- dings einen sehr guten Verstand nicht erwarten; denn da hat diese keiner Gelegenheit, sich durch Uebung zu schärfen. Aber wo sich ein gutes
Sach-
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Jene geben die Erzaͤhlung eines Andern mit eben ſo viel Worten wieder, koͤnnen Zahlen und Na- men ſehr leicht behalten. Wem es daher darum zu thun iſt, etwas genau, ſo wie er es hoͤrte oder las, ſich wieder ins Gedaͤchtniß zu rufen, wie z. B. dem Hiſtoriker und Chronologen, der muß ein Zeichengedaͤchtniß haben. Bey dem Sach- gedaͤchtniß iſt ſchon mehr Selbſtthaͤtigkeit des Ver- ſtandes; denn man muß ſich, um den Geiſt der Vorſtellung zu faſſen, dieſelben nach ihren we- ſentlichen Merkmalen verdeutlichen, welches ein Geſchaͤft des Verſtandes iſt. Dieſes iſt es, was Herr Garve in ſeiner vortreflichen Abhandlung uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten das raiſonniren- de Gedaͤchtniß nennt, und wovon er ſagt, daß es ein ſehr ſicher Kennzeichen, oder vielmehr ein Theil des Verſtandes ſelbſt ſey.
Aus dieſer Unterſcheidung wird nun auch die Frage beantwortet werden koͤnnen, ob es wahr ſey, was man ſo haͤufig hoͤren muß, daß ein gu- tes Gedaͤchtniß das Zeichen eines ſchlechten, me- chaniſchen Kopfes ſey?
Wo ſich blos eine Fertigkeit zeigt, Gedan- kenzeichen zu behalten, die etwas Willkuͤhrliches, und einmal Feſtgeſetztes ſind; da kann man aller- dings einen ſehr guten Verſtand nicht erwarten; denn da hat dieſe keiner Gelegenheit, ſich durch Uebung zu ſchaͤrfen. Aber wo ſich ein gutes
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Jene geben die Erzaͤhlung eines Andern mit eben
ſo viel Worten wieder, koͤnnen Zahlen und Na-
men ſehr leicht behalten. Wem es daher darum
zu thun iſt, etwas genau, ſo wie er es hoͤrte oder
las, ſich wieder ins Gedaͤchtniß zu rufen, wie
z. B. dem Hiſtoriker und Chronologen, der muß
ein Zeichengedaͤchtniß haben. Bey dem Sach-
gedaͤchtniß iſt ſchon mehr Selbſtthaͤtigkeit des Ver-
ſtandes; denn man muß ſich, um den Geiſt der
Vorſtellung zu faſſen, dieſelben nach ihren we-
ſentlichen Merkmalen verdeutlichen, welches ein
Geſchaͤft des Verſtandes iſt. Dieſes iſt es, was
Herr Garve in ſeiner vortreflichen Abhandlung
uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten das raiſonniren-
de Gedaͤchtniß nennt, und wovon er ſagt, daß es
ein ſehr ſicher Kennzeichen, oder vielmehr ein
Theil des Verſtandes ſelbſt ſey.
Aus dieſer Unterſcheidung wird nun auch die
Frage beantwortet werden koͤnnen, ob es wahr
ſey, was man ſo haͤufig hoͤren muß, daß ein gu-
tes Gedaͤchtniß das Zeichen eines ſchlechten, me-
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Wo ſich blos eine Fertigkeit zeigt, Gedan-
kenzeichen zu behalten, die etwas Willkuͤhrliches,
und einmal Feſtgeſetztes ſind; da kann man aller-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/155>, abgerufen am 16.02.2025.
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