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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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tinus Gemahlin, eine Römerin geschändet; sie,
die unschuldige, hat sich des Lebens forthin nicht
werth geachtet; wie viel mehr müssen wir den
Schuldigen strafen? --

So redet Brutus; der Dichter läßt seine
Einbildungskraft also sprechen:*)

Einst war ein schönes Weib, genannt
Lukrezia, die Keusche.
Tarquin, ein Prinz in ihrem Land,
War schön, wie sie; doch sein Verstand
Macht eben kein Geräusche.
Gefühlvoll war Lukrezia,
Wenn Pflichten sie nicht banden;
Tarquin entbrannt', als er sie sah;
Nur war's ein Unglück, siehe da!
Daß sie sich nicht verstanden.
Von Liebe heiß, berauscht von Wein,
Gesalbt wie Nachttischhelden,
Drang er einst in ihr Zimmer ein;
Vorzimmer pflegten nicht zu seyn,
Auch ließ man sich nicht melden.
Sie stutzt, setzt sich in Positur,
Und eilt mit stolzem Schritte
Nach ihrer Klingel; hätte nur
Der Schalk nicht insgeheim die Schnur,
Aus Vorsicht, abgeschnitten.
Er
*) Gotters Gedichte. 1. Th. 32. f.

tinus Gemahlin, eine Roͤmerin geſchaͤndet; ſie,
die unſchuldige, hat ſich des Lebens forthin nicht
werth geachtet; wie viel mehr muͤſſen wir den
Schuldigen ſtrafen? —

So redet Brutus; der Dichter laͤßt ſeine
Einbildungskraft alſo ſprechen:*)

Einſt war ein ſchoͤnes Weib, genannt
Lukrezia, die Keuſche.
Tarquin, ein Prinz in ihrem Land,
War ſchoͤn, wie ſie; doch ſein Verſtand
Macht eben kein Geraͤuſche.
Gefuͤhlvoll war Lukrezia,
Wenn Pflichten ſie nicht banden;
Tarquin entbrannt', als er ſie ſah;
Nur war's ein Ungluͤck, ſiehe da!
Daß ſie ſich nicht verſtanden.
Von Liebe heiß, berauſcht von Wein,
Geſalbt wie Nachttiſchhelden,
Drang er einſt in ihr Zimmer ein;
Vorzimmer pflegten nicht zu ſeyn,
Auch ließ man ſich nicht melden.
Sie ſtutzt, ſetzt ſich in Poſitur,
Und eilt mit ſtolzem Schritte
Nach ihrer Klingel; haͤtte nur
Der Schalk nicht insgeheim die Schnur,
Aus Vorſicht, abgeſchnitten.
Er
*) Gotters Gedichte. 1. Th. 32. f.
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[126/0150] tinus Gemahlin, eine Roͤmerin geſchaͤndet; ſie, die unſchuldige, hat ſich des Lebens forthin nicht werth geachtet; wie viel mehr muͤſſen wir den Schuldigen ſtrafen? — So redet Brutus; der Dichter laͤßt ſeine Einbildungskraft alſo ſprechen: *) Einſt war ein ſchoͤnes Weib, genannt Lukrezia, die Keuſche. Tarquin, ein Prinz in ihrem Land, War ſchoͤn, wie ſie; doch ſein Verſtand Macht eben kein Geraͤuſche. Gefuͤhlvoll war Lukrezia, Wenn Pflichten ſie nicht banden; Tarquin entbrannt', als er ſie ſah; Nur war's ein Ungluͤck, ſiehe da! Daß ſie ſich nicht verſtanden. Von Liebe heiß, berauſcht von Wein, Geſalbt wie Nachttiſchhelden, Drang er einſt in ihr Zimmer ein; Vorzimmer pflegten nicht zu ſeyn, Auch ließ man ſich nicht melden. Sie ſtutzt, ſetzt ſich in Poſitur, Und eilt mit ſtolzem Schritte Nach ihrer Klingel; haͤtte nur Der Schalk nicht insgeheim die Schnur, Aus Vorſicht, abgeſchnitten. Er *) Gotters Gedichte. 1. Th. 32. f.

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/150>, abgerufen am 21.11.2024.