Achte Unterhaltung. Von dem Gedächtniß und der Erinnerungskraft.
Außer der Einbildungskraft oder dem Vermögen sich abwesende Dinge zu repräsentiren, hat die Seele noch eine Kraft, ehemals gehabte Ge- danken, so wie sie dieselben hatte, zu behalten, und wieder zu ihrem Bewußtseyn zu bringen -- das Gedächtniß und die Erinnerungskraft -- welche sich von der Einbildungskraft vorzüglich durch ihre gebundenere Thätigkeit und den ge- ringern Grad von Lebhaftigkeit zu unterschei- den scheinen. Die Phantasie hält die abwesen- den Gegenstände der Seele gleichsam im Bilde vor: man glaubt, sie, wie Schatten, vor sich schweben zu sehen, und Eindrücke zu fühlen, die denen ähnlich oder gleich sind, welche gegenwär- tige Gegenstände auf uns machten oder machen können. Das Gedächtniß bewahrt und reprodu- cirt nur die Gedanken oder Gedankenzeichen, wel- che die gegenwärtigen Dinge in uns legten, und liefert zu der Repräsentation gleichsam den Umriß, welchen die Phantasie alsdann mit lebendigen Far- ben ausmahlt. Wenn der aus dem Feldzuge zu- rückgekommene Krieger die Geschichte desselben
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Achte Unterhaltung. Von dem Gedaͤchtniß und der Erinnerungskraft.
Außer der Einbildungskraft oder dem Vermoͤgen ſich abweſende Dinge zu repraͤſentiren, hat die Seele noch eine Kraft, ehemals gehabte Ge- danken, ſo wie ſie dieſelben hatte, zu behalten, und wieder zu ihrem Bewußtſeyn zu bringen — das Gedaͤchtniß und die Erinnerungskraft — welche ſich von der Einbildungskraft vorzuͤglich durch ihre gebundenere Thaͤtigkeit und den ge- ringern Grad von Lebhaftigkeit zu unterſchei- den ſcheinen. Die Phantaſie haͤlt die abweſen- den Gegenſtaͤnde der Seele gleichſam im Bilde vor: man glaubt, ſie, wie Schatten, vor ſich ſchweben zu ſehen, und Eindruͤcke zu fuͤhlen, die denen aͤhnlich oder gleich ſind, welche gegenwaͤr- tige Gegenſtaͤnde auf uns machten oder machen koͤnnen. Das Gedaͤchtniß bewahrt und reprodu- cirt nur die Gedanken oder Gedankenzeichen, wel- che die gegenwaͤrtigen Dinge in uns legten, und liefert zu der Repraͤſentation gleichſam den Umriß, welchen die Phantaſie alsdann mit lebendigen Far- ben ausmahlt. Wenn der aus dem Feldzuge zu- ruͤckgekommene Krieger die Geſchichte deſſelben
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Achte Unterhaltung.
Von dem
Gedaͤchtniß und der Erinnerungskraft.
Außer der Einbildungskraft oder dem Vermoͤgen
ſich abweſende Dinge zu repraͤſentiren, hat die
Seele noch eine Kraft, ehemals gehabte Ge-
danken, ſo wie ſie dieſelben hatte, zu behalten,
und wieder zu ihrem Bewußtſeyn zu bringen —
das Gedaͤchtniß und die Erinnerungskraft —
welche ſich von der Einbildungskraft vorzuͤglich
durch ihre gebundenere Thaͤtigkeit und den ge-
ringern Grad von Lebhaftigkeit zu unterſchei-
den ſcheinen. Die Phantaſie haͤlt die abweſen-
den Gegenſtaͤnde der Seele gleichſam im Bilde
vor: man glaubt, ſie, wie Schatten, vor ſich
ſchweben zu ſehen, und Eindruͤcke zu fuͤhlen, die
denen aͤhnlich oder gleich ſind, welche gegenwaͤr-
tige Gegenſtaͤnde auf uns machten oder machen
koͤnnen. Das Gedaͤchtniß bewahrt und reprodu-
cirt nur die Gedanken oder Gedankenzeichen, wel-
che die gegenwaͤrtigen Dinge in uns legten, und
liefert zu der Repraͤſentation gleichſam den Umriß,
welchen die Phantaſie alsdann mit lebendigen Far-
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/143>, abgerufen am 16.02.2025.
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