oder Freisprechung, worunter auch die gemischten Urtheile mit begriffen sind; ein Urtheil mit non liquet war nie möglich.
Die regelmäßige Anweisung in der Formel: Si paret, condemna, si non paret, absolve, ließ für eine dritte Art von Urtheilen keinen Raum (Note b), und das zweite Glied der Alternative: si non paret, umfaßte nicht nur die Fälle, worin der Juder die bestimmte Überzeugung hatte, der Be- klagte sey nicht verpflichtet, sondern auch die, worin es ihm an aller Überzeugung nach beiden Seiten hin gänzlich fehlte. Derselbe Satz, dessen Anerkennung so eben aus den Römischen Formeln nachgewiesen worden ist, wird von dem Standpunkt unsres wissenschaftlich ausgebildeten Prozeß- rechts so ausgedrückt: Nach der Regel über die Beweislaft darf und muß der Richter annehmen, die nicht erwiesene Klage sey nicht begründet. Es liegt hierin nur eine andere Auffassung und Bezeichnung desselben Satzes.
Es sind nur noch einige Stellen zu erklären, die auf die Möglichkeit eines solchen unentscheidenden Urtheils gedeu- tet werden könnten.
Gellius erzählt, er selbst sey einmal Juder gewesen, als ein sehr rechtschaffener Mann gegen einen Menschen von verdächtigem Charakter ein Darlehn einklagte, ohne Beweise führen zu können. Durch einen Eid: mihi non liquere, machte er sich frei von der Verlegenheit, gegen seine persönliche Meinung urtheilen zu müssen (i). Wollte man
(i)Gellius XIV. 2: "et propterea juravi, mihi non liquere, atque ita judicatu illo solutus sum."
§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
oder Freiſprechung, worunter auch die gemiſchten Urtheile mit begriffen ſind; ein Urtheil mit non liquet war nie möglich.
Die regelmäßige Anweiſung in der Formel: Si paret, condemna, si non paret, absolve, ließ für eine dritte Art von Urtheilen keinen Raum (Note b), und das zweite Glied der Alternative: si non paret, umfaßte nicht nur die Fälle, worin der Juder die beſtimmte Überzeugung hatte, der Be- klagte ſey nicht verpflichtet, ſondern auch die, worin es ihm an aller Überzeugung nach beiden Seiten hin gänzlich fehlte. Derſelbe Satz, deſſen Anerkennung ſo eben aus den Römiſchen Formeln nachgewieſen worden iſt, wird von dem Standpunkt unſres wiſſenſchaftlich ausgebildeten Prozeß- rechts ſo ausgedrückt: Nach der Regel über die Beweislaft darf und muß der Richter annehmen, die nicht erwieſene Klage ſey nicht begründet. Es liegt hierin nur eine andere Auffaſſung und Bezeichnung deſſelben Satzes.
Es ſind nur noch einige Stellen zu erklären, die auf die Möglichkeit eines ſolchen unentſcheidenden Urtheils gedeu- tet werden könnten.
Gellius erzählt, er ſelbſt ſey einmal Juder geweſen, als ein ſehr rechtſchaffener Mann gegen einen Menſchen von verdächtigem Charakter ein Darlehn einklagte, ohne Beweiſe führen zu können. Durch einen Eid: mihi non liquere, machte er ſich frei von der Verlegenheit, gegen ſeine perſönliche Meinung urtheilen zu müſſen (i). Wollte man
(i)Gellius XIV. 2: „et propterea juravi, mihi non liquere, atque ita judicatu illo solutus sum.“
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§. 286. Inhalt des Urtheils. Arten.
oder Freiſprechung, worunter auch die gemiſchten Urtheile
mit begriffen ſind; ein Urtheil mit non liquet war nie
möglich.
Die regelmäßige Anweiſung in der Formel: Si paret,
condemna, si non paret, absolve, ließ für eine dritte Art
von Urtheilen keinen Raum (Note b), und das zweite Glied
der Alternative: si non paret, umfaßte nicht nur die Fälle,
worin der Juder die beſtimmte Überzeugung hatte, der Be-
klagte ſey nicht verpflichtet, ſondern auch die, worin es ihm
an aller Überzeugung nach beiden Seiten hin gänzlich
fehlte. Derſelbe Satz, deſſen Anerkennung ſo eben aus den
Römiſchen Formeln nachgewieſen worden iſt, wird von dem
Standpunkt unſres wiſſenſchaftlich ausgebildeten Prozeß-
rechts ſo ausgedrückt: Nach der Regel über die Beweislaft
darf und muß der Richter annehmen, die nicht erwieſene
Klage ſey nicht begründet. Es liegt hierin nur eine andere
Auffaſſung und Bezeichnung deſſelben Satzes.
Es ſind nur noch einige Stellen zu erklären, die auf
die Möglichkeit eines ſolchen unentſcheidenden Urtheils gedeu-
tet werden könnten.
Gellius erzählt, er ſelbſt ſey einmal Juder geweſen,
als ein ſehr rechtſchaffener Mann gegen einen Menſchen
von verdächtigem Charakter ein Darlehn einklagte, ohne
Beweiſe führen zu können. Durch einen Eid: mihi non
liquere, machte er ſich frei von der Verlegenheit, gegen ſeine
perſönliche Meinung urtheilen zu müſſen (i). Wollte man
(i) Gellius XIV. 2: „et propterea juravi, mihi non liquere,
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/329>, abgerufen am 25.11.2024.
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