Wenn wir, um diese Frage nach dem R. R. zu beant- worten, den Standpunkt des Zeitalterts wählen, in welchem der Formularprozeß bestand, so hat es keinen Zweifel, daß die Rechtskraft jedem Urtheil zugeschrieben werden mußte, das unter der Autorität einer richterlichen Obrigkeit von einem Judex ausgesprochen war. Unter Juder aber ist hier zu verstehen die zur Entscheidung eines Rechtsstreits von der Obrigkeit ernannte Privatperson, mochte diese Er- nennung an eine einzelne Person gerichtet seyn, oder an ein Richtercollegium. Ferner ist unter dem Urtheil dieses Judex, als Grundlage der Rechtskraft, nicht blos die eigentliche Sententia zu verstehen (Condemnatio oder Absolutio), son- dern auch die derselben bei manchen Klagen oft vorher- gehende Pronuntiatio (§ 287).
Allein dieser Fall war, wenn auch der regelmäßige und häufigste, dennoch keinesweges der einzige, worin die Rechts- kraft entstehen konnte. Auch der Prätor konnte, ohne einen Judex zu ernennen, selbst das Urtheil aussprechen, und dieses ging dann nicht minder in Rechtskraft über. Wenn diese Be- fugniß neuerlich in Zweifel gezogen worden ist (a), so scheint dabei der allzu moderne Gedanke zum Grunde zu liegen, das Urtheilsprechen durch Privatpersonen sey eingeführt worden als eine Theilung der richterlichen Gewalt, zum Schutz gegen ungerechte Willkühr von Seiten des Prätors. Allein gegen diese Gefahr schützten manche andere Schranken der obrigkeitlichen Gewalt, und die Prozeßführung vor dem
(a)Puchta Cursus der Institutionen B. 2 § 175 Note n.
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wenn wir, um dieſe Frage nach dem R. R. zu beant- worten, den Standpunkt des Zeitalterts wählen, in welchem der Formularprozeß beſtand, ſo hat es keinen Zweifel, daß die Rechtskraft jedem Urtheil zugeſchrieben werden mußte, das unter der Autorität einer richterlichen Obrigkeit von einem Judex ausgeſprochen war. Unter Juder aber iſt hier zu verſtehen die zur Entſcheidung eines Rechtsſtreits von der Obrigkeit ernannte Privatperſon, mochte dieſe Er- nennung an eine einzelne Perſon gerichtet ſeyn, oder an ein Richtercollegium. Ferner iſt unter dem Urtheil dieſes Judex, als Grundlage der Rechtskraft, nicht blos die eigentliche Sententia zu verſtehen (Condemnatio oder Absolutio), ſon- dern auch die derſelben bei manchen Klagen oft vorher- gehende Pronuntiatio (§ 287).
Allein dieſer Fall war, wenn auch der regelmäßige und häufigſte, dennoch keinesweges der einzige, worin die Rechts- kraft entſtehen konnte. Auch der Prätor konnte, ohne einen Judex zu ernennen, ſelbſt das Urtheil ausſprechen, und dieſes ging dann nicht minder in Rechtskraft über. Wenn dieſe Be- fugniß neuerlich in Zweifel gezogen worden iſt (a), ſo ſcheint dabei der allzu moderne Gedanke zum Grunde zu liegen, das Urtheilſprechen durch Privatperſonen ſey eingeführt worden als eine Theilung der richterlichen Gewalt, zum Schutz gegen ungerechte Willkühr von Seiten des Prätors. Allein gegen dieſe Gefahr ſchützten manche andere Schranken der obrigkeitlichen Gewalt, und die Prozeßführung vor dem
(a)Puchta Curſus der Inſtitutionen B. 2 § 175 Note n.
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
Wenn wir, um dieſe Frage nach dem R. R. zu beant-
worten, den Standpunkt des Zeitalterts wählen, in welchem
der Formularprozeß beſtand, ſo hat es keinen Zweifel, daß
die Rechtskraft jedem Urtheil zugeſchrieben werden mußte,
das unter der Autorität einer richterlichen Obrigkeit von
einem Judex ausgeſprochen war. Unter Juder aber iſt
hier zu verſtehen die zur Entſcheidung eines Rechtsſtreits
von der Obrigkeit ernannte Privatperſon, mochte dieſe Er-
nennung an eine einzelne Perſon gerichtet ſeyn, oder an ein
Richtercollegium. Ferner iſt unter dem Urtheil dieſes Judex,
als Grundlage der Rechtskraft, nicht blos die eigentliche
Sententia zu verſtehen (Condemnatio oder Absolutio), ſon-
dern auch die derſelben bei manchen Klagen oft vorher-
gehende Pronuntiatio (§ 287).
Allein dieſer Fall war, wenn auch der regelmäßige und
häufigſte, dennoch keinesweges der einzige, worin die Rechts-
kraft entſtehen konnte. Auch der Prätor konnte, ohne einen
Judex zu ernennen, ſelbſt das Urtheil ausſprechen, und dieſes
ging dann nicht minder in Rechtskraft über. Wenn dieſe Be-
fugniß neuerlich in Zweifel gezogen worden iſt (a), ſo ſcheint
dabei der allzu moderne Gedanke zum Grunde zu liegen, das
Urtheilſprechen durch Privatperſonen ſey eingeführt worden
als eine Theilung der richterlichen Gewalt, zum Schutz
gegen ungerechte Willkühr von Seiten des Prätors. Allein
gegen dieſe Gefahr ſchützten manche andere Schranken der
obrigkeitlichen Gewalt, und die Prozeßführung vor dem
(a) Puchta Curſus der Inſtitutionen B. 2 § 175 Note n.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/304>, abgerufen am 23.11.2024.
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