Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.Irrthum und Unwissenheit. Fall selbst auf ganz entgegengesetzte Weise beurtheilen wer-den. Dann aber wäre es doch die höchste Willkühr und Ungerechtigkeit, wenn wir Demjenigen, dessen Subsum- tion wir verwerfen, nicht nur Unrecht geben, sondern auch große Nachlässigkeit vorwerfen wollten, indem er durch Erkundigung die Wahrheit leicht hätte erfahren können. Ein Beyspiel mag dieses anschaulich machen. Der be- rühmten L. Frater a Fratre (L. 38 de cond. indebiti) liegt ein so verwickelter Rechtsfall zum Grund, daß sehr nam- hafte Juristen, lediglich durch verschiedene Subsumtion, auf ganz entgegengesetzte Erklärungen gerathen sind. Woll- ten wir nun Demjenigen, der unter Voraussetzung einer irrigen Erklärung dieser Stelle ein Rechtsgeschäft vorge- nommen hätte, eine unverzeihliche Nachlässigkeit vorwer- fen, und deshalb den Schutz entziehen, worauf er außer- dem, des Irrthums wegen, Anspruch haben dürfte? Die Römer urtheilten nicht also. Denn obgleich sie überhaupt den Rechtsirrthum sehr streng behandeln, und namentlich als Grund der condictio indebiti nicht gelten lassen, so gestattet doch Africanus in dem Fall dieser Stelle die Condiction unbedenklich: offenbar von der Ansicht ausge- hend, daß der Irrthum des an seinen Bruder zahlenden Schuldners, der sich in das verwickelte Rechtsverhältniß nicht hatte finden können, ganz anderer Natur sey, als der Irrthum über eine leicht faßliche, überall zu erfra- gende Rechtsregel (a) (a) Mühlenbruch S. 423 nimmt freylich in dieser Stelle 22*
Irrthum und Unwiſſenheit. Fall ſelbſt auf ganz entgegengeſetzte Weiſe beurtheilen wer-den. Dann aber wäre es doch die hoͤchſte Willkühr und Ungerechtigkeit, wenn wir Demjenigen, deſſen Subſum- tion wir verwerfen, nicht nur Unrecht geben, ſondern auch große Nachläſſigkeit vorwerfen wollten, indem er durch Erkundigung die Wahrheit leicht hätte erfahren können. Ein Beyſpiel mag dieſes anſchaulich machen. Der be- rühmten L. Frater a Fratre (L. 38 de cond. indebiti) liegt ein ſo verwickelter Rechtsfall zum Grund, daß ſehr nam- hafte Juriſten, lediglich durch verſchiedene Subſumtion, auf ganz entgegengeſetzte Erklärungen gerathen ſind. Woll- ten wir nun Demjenigen, der unter Vorausſetzung einer irrigen Erklärung dieſer Stelle ein Rechtsgeſchäft vorge- nommen hätte, eine unverzeihliche Nachläſſigkeit vorwer- fen, und deshalb den Schutz entziehen, worauf er außer- dem, des Irrthums wegen, Anſpruch haben dürfte? Die Römer urtheilten nicht alſo. Denn obgleich ſie überhaupt den Rechtsirrthum ſehr ſtreng behandeln, und namentlich als Grund der condictio indebiti nicht gelten laſſen, ſo geſtattet doch Africanus in dem Fall dieſer Stelle die Condiction unbedenklich: offenbar von der Anſicht ausge- hend, daß der Irrthum des an ſeinen Bruder zahlenden Schuldners, der ſich in das verwickelte Rechtsverhältniß nicht hatte finden können, ganz anderer Natur ſey, als der Irrthum über eine leicht faßliche, überall zu erfra- gende Rechtsregel (a) (a) Mühlenbruch S. 423 nimmt freylich in dieſer Stelle 22*
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Irrthum und Unwiſſenheit.
Fall ſelbſt auf ganz entgegengeſetzte Weiſe beurtheilen wer-
den. Dann aber wäre es doch die hoͤchſte Willkühr und
Ungerechtigkeit, wenn wir Demjenigen, deſſen Subſum-
tion wir verwerfen, nicht nur Unrecht geben, ſondern auch
große Nachläſſigkeit vorwerfen wollten, indem er durch
Erkundigung die Wahrheit leicht hätte erfahren können.
Ein Beyſpiel mag dieſes anſchaulich machen. Der be-
rühmten L. Frater a Fratre (L. 38 de cond. indebiti) liegt
ein ſo verwickelter Rechtsfall zum Grund, daß ſehr nam-
hafte Juriſten, lediglich durch verſchiedene Subſumtion,
auf ganz entgegengeſetzte Erklärungen gerathen ſind. Woll-
ten wir nun Demjenigen, der unter Vorausſetzung einer
irrigen Erklärung dieſer Stelle ein Rechtsgeſchäft vorge-
nommen hätte, eine unverzeihliche Nachläſſigkeit vorwer-
fen, und deshalb den Schutz entziehen, worauf er außer-
dem, des Irrthums wegen, Anſpruch haben dürfte? Die
Römer urtheilten nicht alſo. Denn obgleich ſie überhaupt
den Rechtsirrthum ſehr ſtreng behandeln, und namentlich
als Grund der condictio indebiti nicht gelten laſſen, ſo
geſtattet doch Africanus in dem Fall dieſer Stelle die
Condiction unbedenklich: offenbar von der Anſicht ausge-
hend, daß der Irrthum des an ſeinen Bruder zahlenden
Schuldners, der ſich in das verwickelte Rechtsverhältniß
nicht hatte finden können, ganz anderer Natur ſey, als
der Irrthum über eine leicht faßliche, überall zu erfra-
gende Rechtsregel (a)
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