Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 78. Infamie. Juristische Bedeutung.
Infamie, woraus allein der bestimmte, praktische Begriff
derselben gebildet werden kann, den wir nach den so eben
angestellten Betrachtungen zu erwarten berechtigt sind?

Fragen wir nach dem Zusammenhang, worin dieser
Begriff in den Rechtsquellen unmittelbar vorkommt, so
scheint Alles einfach und leicht. Die Digesten enthalten
wörtlich die Stelle des Edicts, worin die Fälle der In-
famie aufgezählt sind, und woran sich alle spätere Be-
stimmungen anschließen. Der Prätor aber war veran-
laßt, die Infamie im Edict zu erwähnen, weil er nicht
leiden wollte, daß infame Personen für Andere postuliren,
d. h. vor seinem Tribunal Anträge machen sollten. Darum
steht in den Digesten der Titel de his qui notantur infa-
mia
unmittelbar hinter dem de postulando. Mag also
auch von jeher ein unbestimmter Begriff von Infamie exi-
stirt haben, ähnlich dem was unsre Juristen die infamia
facti
nennen, so scheint doch der Prätor derjenige, wel-
cher zuerst ihn juristisch auffaßte, ihm feste Gränzen gab,
und eine bestimmte Wirkung beylegte. Demnach könnten
wir, wie es scheint, den Rechtsbegriff der Infamie so
definiren: es ist der Zustand derjenigen Personen, welche
in der Regel unfähig sind, für Andere zu postuliren (e).

Allein bey genauerer Betrachtung erscheint diese Er-
klärung unhaltbar. Vor Allem muß dabey Jedem ein gro-

(e) Dieses ist eigentlich die An-
sicht der Meisten, nur mehr oder
weniger deutlich ausgesprochen.
Vgl. unter Anderen Marezoll
S. 99. 208. 212.

§. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung.
Infamie, woraus allein der beſtimmte, praktiſche Begriff
derſelben gebildet werden kann, den wir nach den ſo eben
angeſtellten Betrachtungen zu erwarten berechtigt ſind?

Fragen wir nach dem Zuſammenhang, worin dieſer
Begriff in den Rechtsquellen unmittelbar vorkommt, ſo
ſcheint Alles einfach und leicht. Die Digeſten enthalten
wörtlich die Stelle des Edicts, worin die Fälle der In-
famie aufgezählt ſind, und woran ſich alle ſpätere Be-
ſtimmungen anſchließen. Der Prätor aber war veran-
laßt, die Infamie im Edict zu erwähnen, weil er nicht
leiden wollte, daß infame Perſonen für Andere poſtuliren,
d. h. vor ſeinem Tribunal Anträge machen ſollten. Darum
ſteht in den Digeſten der Titel de his qui notantur infa-
mia
unmittelbar hinter dem de postulando. Mag alſo
auch von jeher ein unbeſtimmter Begriff von Infamie exi-
ſtirt haben, ähnlich dem was unſre Juriſten die infamia
facti
nennen, ſo ſcheint doch der Prätor derjenige, wel-
cher zuerſt ihn juriſtiſch auffaßte, ihm feſte Gränzen gab,
und eine beſtimmte Wirkung beylegte. Demnach könnten
wir, wie es ſcheint, den Rechtsbegriff der Infamie ſo
definiren: es iſt der Zuſtand derjenigen Perſonen, welche
in der Regel unfähig ſind, für Andere zu poſtuliren (e).

Allein bey genauerer Betrachtung erſcheint dieſe Er-
klärung unhaltbar. Vor Allem muß dabey Jedem ein gro-

(e) Dieſes iſt eigentlich die An-
ſicht der Meiſten, nur mehr oder
weniger deutlich ausgeſprochen.
Vgl. unter Anderen Marezoll
S. 99. 208. 212.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0203" n="189"/><fw place="top" type="header">§. 78. Infamie. Juri&#x017F;ti&#x017F;che Bedeutung.</fw><lb/>
Infamie, woraus allein der be&#x017F;timmte, prakti&#x017F;che Begriff<lb/>
der&#x017F;elben gebildet werden kann, den wir nach den &#x017F;o eben<lb/>
ange&#x017F;tellten Betrachtungen zu erwarten berechtigt &#x017F;ind?</p><lb/>
            <p>Fragen wir nach dem Zu&#x017F;ammenhang, worin die&#x017F;er<lb/>
Begriff in den Rechtsquellen unmittelbar vorkommt, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;cheint Alles einfach und leicht. Die Dige&#x017F;ten enthalten<lb/>
wörtlich die Stelle des Edicts, worin die Fälle der In-<lb/>
famie aufgezählt &#x017F;ind, und woran &#x017F;ich alle &#x017F;pätere Be-<lb/>
&#x017F;timmungen an&#x017F;chließen. Der Prätor aber war veran-<lb/>
laßt, die Infamie im Edict zu erwähnen, weil er nicht<lb/>
leiden wollte, daß infame Per&#x017F;onen für Andere po&#x017F;tuliren,<lb/>
d. h. vor &#x017F;einem Tribunal Anträge machen &#x017F;ollten. Darum<lb/>
&#x017F;teht in den Dige&#x017F;ten der Titel <hi rendition="#aq">de his qui notantur infa-<lb/>
mia</hi> unmittelbar hinter dem <hi rendition="#aq">de postulando.</hi> Mag al&#x017F;o<lb/>
auch von jeher ein unbe&#x017F;timmter Begriff von Infamie exi-<lb/>
&#x017F;tirt haben, ähnlich dem was un&#x017F;re Juri&#x017F;ten die <hi rendition="#aq">infamia<lb/>
facti</hi> nennen, &#x017F;o &#x017F;cheint doch der Prätor derjenige, wel-<lb/>
cher zuer&#x017F;t ihn juri&#x017F;ti&#x017F;ch auffaßte, ihm fe&#x017F;te Gränzen gab,<lb/>
und eine be&#x017F;timmte Wirkung beylegte. Demnach könnten<lb/>
wir, wie es &#x017F;cheint, den Rechtsbegriff der Infamie &#x017F;o<lb/>
definiren: es i&#x017F;t der Zu&#x017F;tand derjenigen Per&#x017F;onen, welche<lb/>
in der Regel unfähig &#x017F;ind, für Andere zu po&#x017F;tuliren <note place="foot" n="(e)">Die&#x017F;es i&#x017F;t eigentlich die An-<lb/>
&#x017F;icht der Mei&#x017F;ten, nur mehr oder<lb/>
weniger deutlich ausge&#x017F;prochen.<lb/>
Vgl. unter Anderen <hi rendition="#g">Marezoll</hi><lb/>
S. 99. 208. 212.</note>.</p><lb/>
            <p>Allein bey genauerer Betrachtung er&#x017F;cheint die&#x017F;e Er-<lb/>
klärung unhaltbar. Vor Allem muß dabey Jedem ein gro-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0203] §. 78. Infamie. Juriſtiſche Bedeutung. Infamie, woraus allein der beſtimmte, praktiſche Begriff derſelben gebildet werden kann, den wir nach den ſo eben angeſtellten Betrachtungen zu erwarten berechtigt ſind? Fragen wir nach dem Zuſammenhang, worin dieſer Begriff in den Rechtsquellen unmittelbar vorkommt, ſo ſcheint Alles einfach und leicht. Die Digeſten enthalten wörtlich die Stelle des Edicts, worin die Fälle der In- famie aufgezählt ſind, und woran ſich alle ſpätere Be- ſtimmungen anſchließen. Der Prätor aber war veran- laßt, die Infamie im Edict zu erwähnen, weil er nicht leiden wollte, daß infame Perſonen für Andere poſtuliren, d. h. vor ſeinem Tribunal Anträge machen ſollten. Darum ſteht in den Digeſten der Titel de his qui notantur infa- mia unmittelbar hinter dem de postulando. Mag alſo auch von jeher ein unbeſtimmter Begriff von Infamie exi- ſtirt haben, ähnlich dem was unſre Juriſten die infamia facti nennen, ſo ſcheint doch der Prätor derjenige, wel- cher zuerſt ihn juriſtiſch auffaßte, ihm feſte Gränzen gab, und eine beſtimmte Wirkung beylegte. Demnach könnten wir, wie es ſcheint, den Rechtsbegriff der Infamie ſo definiren: es iſt der Zuſtand derjenigen Perſonen, welche in der Regel unfähig ſind, für Andere zu poſtuliren (e). Allein bey genauerer Betrachtung erſcheint dieſe Er- klärung unhaltbar. Vor Allem muß dabey Jedem ein gro- (e) Dieſes iſt eigentlich die An- ſicht der Meiſten, nur mehr oder weniger deutlich ausgeſprochen. Vgl. unter Anderen Marezoll S. 99. 208. 212.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/203
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/203>, abgerufen am 21.11.2024.