Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
durch jene gemeinsamen Richtungen und Thätigkeiten be- stimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die sichtbarste, die erste Stelle einnimmt.
Die Gestalt aber, in welcher das Recht in dem gemein- samen Bewußtseyn des Volks lebt, ist nicht die der ab- stracten Regel, sondern die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang, so daß, wo das Bedürfniß entsteht, sich der Regel in ihrer logischen Form bewußt zu werden, diese erst durch einen künstlichen Prozeß aus jener Totalanschauung gebildet werden muß. Jene Gestalt offenbart sich durch die sym- bolischen Handlungen, die das Wesen der Rechtsverhält- nisse bildlich darstellen, und in welchen sich die ursprüng- lichen Volksrechte meist deutlicher und gründlicher aus- sprechen, als in den Gesetzen.
Bey dieser Annahme von der Entstehung des positiven Rechts wurde zunächst noch abgesehen von dem in der Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun auch dessen Einwirkung auf das Recht, so werden wir ihm vor Allem eine befestigende Kraft zuerkennen müssen: je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben, desto tiefer werden sie in ihm wurzeln. Ferner wird sich das Recht durch die Übung entfalten, und was ursprüng- lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An- wendung in bestimmter Gestalt zum Bewußtseyn kommen. Aber auch Veränderung des Rechts wird auf diesem Wege erzeugt werden. Denn wie in dem Leben des einzelnen
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
durch jene gemeinſamen Richtungen und Thätigkeiten be- ſtimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die ſichtbarſte, die erſte Stelle einnimmt.
Die Geſtalt aber, in welcher das Recht in dem gemein- ſamen Bewußtſeyn des Volks lebt, iſt nicht die der ab- ſtracten Regel, ſondern die lebendige Anſchauung der Rechtsinſtitute in ihrem organiſchen Zuſammenhang, ſo daß, wo das Bedürfniß entſteht, ſich der Regel in ihrer logiſchen Form bewußt zu werden, dieſe erſt durch einen künſtlichen Prozeß aus jener Totalanſchauung gebildet werden muß. Jene Geſtalt offenbart ſich durch die ſym- boliſchen Handlungen, die das Weſen der Rechtsverhält- niſſe bildlich darſtellen, und in welchen ſich die urſprüng- lichen Volksrechte meiſt deutlicher und gründlicher aus- ſprechen, als in den Geſetzen.
Bey dieſer Annahme von der Entſtehung des poſitiven Rechts wurde zunächſt noch abgeſehen von dem in der Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun auch deſſen Einwirkung auf das Recht, ſo werden wir ihm vor Allem eine befeſtigende Kraft zuerkennen müſſen: je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben, deſto tiefer werden ſie in ihm wurzeln. Ferner wird ſich das Recht durch die Übung entfalten, und was urſprüng- lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An- wendung in beſtimmter Geſtalt zum Bewußtſeyn kommen. Aber auch Veränderung des Rechts wird auf dieſem Wege erzeugt werden. Denn wie in dem Leben des einzelnen
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Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
durch jene gemeinſamen Richtungen und Thätigkeiten be-
ſtimmt und erkannt, unter welchen die Sprache, als die
ſichtbarſte, die erſte Stelle einnimmt.
Die Geſtalt aber, in welcher das Recht in dem gemein-
ſamen Bewußtſeyn des Volks lebt, iſt nicht die der ab-
ſtracten Regel, ſondern die lebendige Anſchauung der
Rechtsinſtitute in ihrem organiſchen Zuſammenhang, ſo
daß, wo das Bedürfniß entſteht, ſich der Regel in ihrer
logiſchen Form bewußt zu werden, dieſe erſt durch einen
künſtlichen Prozeß aus jener Totalanſchauung gebildet
werden muß. Jene Geſtalt offenbart ſich durch die ſym-
boliſchen Handlungen, die das Weſen der Rechtsverhält-
niſſe bildlich darſtellen, und in welchen ſich die urſprüng-
lichen Volksrechte meiſt deutlicher und gründlicher aus-
ſprechen, als in den Geſetzen.
Bey dieſer Annahme von der Entſtehung des poſitiven
Rechts wurde zunächſt noch abgeſehen von dem in der
Zeit fortgehenden Leben der Völker. Betrachten wir nun
auch deſſen Einwirkung auf das Recht, ſo werden wir
ihm vor Allem eine befeſtigende Kraft zuerkennen müſſen:
je länger die Rechtsüberzeugungen in dem Volk leben,
deſto tiefer werden ſie in ihm wurzeln. Ferner wird ſich
das Recht durch die Übung entfalten, und was urſprüng-
lich blos im Keim vorhanden war, wird durch die An-
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Aber auch Veränderung des Rechts wird auf dieſem Wege
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/72>, abgerufen am 22.11.2024.
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