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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. I. Wesen und Arten.
den würde. Ohnehin war für unsre Wissenschaft von
jeher eine der ergiebigsten Quellen falscher Ansichten in
einem grundlosen Bestreben nach Abstractionen zu finden:
dieses Bestreben aber kann durch die willkührliche und un-
kritische Aufstellung eines allgemeinen Theiles ganz beson-
ders befördert werden. So wenig aber diese Gefahr ver-
kannt, und die Warnung gegen eine übertriebene Ausdeh-
nung des allgemeinen Theils versäumt werden soll, so
kann doch auch umgekehrt die Wahrheit dadurch gefähr-
det werden, daß ein Begriff oder ein Rechtssatz nicht in
der ihm wirklich zukommenden Allgemeinheit aufgefaßt
wird. Und so ist also hier, wie überall, der Takt, wel-
cher das rechte Maaß zu halten weiß, der einzige Schutz
wider entgegengesetzte Verirrungen.

Vielleicht wäre über diesen Punkt von jeher weniger
Zweifel und Streit entstanden, wenn man stets die ver-
schiedenen Zwecke und Formen der Mittheilung nach ihrer
Eigenthümlichkeit in's Auge gefaßt hätte. In einer Vor-
lesung über Institutionen ist es gewiß räthlich, so schnell
als möglich auf das Besondere einzugehen, damit vor
Allem der Zuhörer in den Besitz concreter Anschauungen
von Rechtsinstituten gesetzt werde. In den Vorlesungen
über Pandekten läßt sich schon mehr Allgemeines mitthei-
len, ohne Gefahr, daß dieses für den Zuhörer gestaltlos
und ohne Anschaulichkeit bleibe. Aber noch weiter darf
der Schriftsteller gehen, da dieser gewiß auf eine große
Mehrzahl von Lesern rechnen kann, die in der Mitthei-

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
den würde. Ohnehin war für unſre Wiſſenſchaft von
jeher eine der ergiebigſten Quellen falſcher Anſichten in
einem grundloſen Beſtreben nach Abſtractionen zu finden:
dieſes Beſtreben aber kann durch die willkührliche und un-
kritiſche Aufſtellung eines allgemeinen Theiles ganz beſon-
ders befördert werden. So wenig aber dieſe Gefahr ver-
kannt, und die Warnung gegen eine übertriebene Ausdeh-
nung des allgemeinen Theils verſäumt werden ſoll, ſo
kann doch auch umgekehrt die Wahrheit dadurch gefähr-
det werden, daß ein Begriff oder ein Rechtsſatz nicht in
der ihm wirklich zukommenden Allgemeinheit aufgefaßt
wird. Und ſo iſt alſo hier, wie überall, der Takt, wel-
cher das rechte Maaß zu halten weiß, der einzige Schutz
wider entgegengeſetzte Verirrungen.

Vielleicht wäre über dieſen Punkt von jeher weniger
Zweifel und Streit entſtanden, wenn man ſtets die ver-
ſchiedenen Zwecke und Formen der Mittheilung nach ihrer
Eigenthümlichkeit in’s Auge gefaßt hätte. In einer Vor-
leſung über Inſtitutionen iſt es gewiß räthlich, ſo ſchnell
als möglich auf das Beſondere einzugehen, damit vor
Allem der Zuhörer in den Beſitz concreter Anſchauungen
von Rechtsinſtituten geſetzt werde. In den Vorleſungen
über Pandekten läßt ſich ſchon mehr Allgemeines mitthei-
len, ohne Gefahr, daß dieſes für den Zuhörer geſtaltlos
und ohne Anſchaulichkeit bleibe. Aber noch weiter darf
der Schriftſteller gehen, da dieſer gewiß auf eine große
Mehrzahl von Leſern rechnen kann, die in der Mitthei-

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[392/0448] Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten. den würde. Ohnehin war für unſre Wiſſenſchaft von jeher eine der ergiebigſten Quellen falſcher Anſichten in einem grundloſen Beſtreben nach Abſtractionen zu finden: dieſes Beſtreben aber kann durch die willkührliche und un- kritiſche Aufſtellung eines allgemeinen Theiles ganz beſon- ders befördert werden. So wenig aber dieſe Gefahr ver- kannt, und die Warnung gegen eine übertriebene Ausdeh- nung des allgemeinen Theils verſäumt werden ſoll, ſo kann doch auch umgekehrt die Wahrheit dadurch gefähr- det werden, daß ein Begriff oder ein Rechtsſatz nicht in der ihm wirklich zukommenden Allgemeinheit aufgefaßt wird. Und ſo iſt alſo hier, wie überall, der Takt, wel- cher das rechte Maaß zu halten weiß, der einzige Schutz wider entgegengeſetzte Verirrungen. Vielleicht wäre über dieſen Punkt von jeher weniger Zweifel und Streit entſtanden, wenn man ſtets die ver- ſchiedenen Zwecke und Formen der Mittheilung nach ihrer Eigenthümlichkeit in’s Auge gefaßt hätte. In einer Vor- leſung über Inſtitutionen iſt es gewiß räthlich, ſo ſchnell als möglich auf das Beſondere einzugehen, damit vor Allem der Zuhörer in den Beſitz concreter Anſchauungen von Rechtsinſtituten geſetzt werde. In den Vorleſungen über Pandekten läßt ſich ſchon mehr Allgemeines mitthei- len, ohne Gefahr, daß dieſes für den Zuhörer geſtaltlos und ohne Anſchaulichkeit bleibe. Aber noch weiter darf der Schriftſteller gehen, da dieſer gewiß auf eine große Mehrzahl von Leſern rechnen kann, die in der Mitthei-

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/448>, abgerufen am 14.08.2024.