Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. I. Wesen und Arten. samkeit jedes Einzelnen einen sichern, freyen Raum ge-winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch sie dieser freye Raum bestimmt wird, ist das Recht. Damit ist zugleich die Verwandtschaft und die Verschiedenheit zwi- schen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein- zelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert. Sein Daseyn aber ist ein selbstständiges, und darum ist es kein Wider- spruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unsittli- cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup- tet wird. Das Bedürfniß und das Daseyn des Rechts ist eine Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin- Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten. ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge-winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi- ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein- zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider- ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli- cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup- tet wird. Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0388" n="332"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">II.</hi> Rechtsverhältniſſe. Kap. <hi rendition="#aq">I.</hi> Weſen und Arten.</fw><lb/> ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge-<lb/> winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie<lb/> dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit<lb/> iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi-<lb/> ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient<lb/> der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht,<lb/> ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein-<lb/> zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn<lb/> aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider-<lb/> ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli-<lb/> cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup-<lb/> tet wird.</p><lb/> <p>Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine<lb/> Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht<lb/> einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei-<lb/> ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da-<lb/> ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.</p><lb/> <p>Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin-<lb/> den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem<lb/> Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey-<lb/> heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick-<lb/> lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt<lb/> werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das<lb/> Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini-<lb/> gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück<lb/> ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten;<lb/> oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [332/0388]
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge-
winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie
dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit
iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi-
ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient
der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht,
ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein-
zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn
aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider-
ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli-
cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup-
tet wird.
Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine
Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht
einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei-
ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da-
ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.
Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin-
den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem
Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey-
heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick-
lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt
werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das
Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini-
gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück
ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten;
oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |