Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. I. Wesen und Arten.
samkeit jedes Einzelnen einen sichern, freyen Raum ge- winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch sie dieser freye Raum bestimmt wird, ist das Recht. Damit ist zugleich die Verwandtschaft und die Verschiedenheit zwi- schen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein- zelnen Willen inwohnenden, Kraft sichert. Sein Daseyn aber ist ein selbstständiges, und darum ist es kein Wider- spruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unsittli- cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup- tet wird.
Das Bedürfniß und das Daseyn des Rechts ist eine Folge der Unvollkommenheit unsres Zustandes, aber nicht einer zufälligen, historischen Unvollkommenheit, sondern ei- ner solchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unsres Da- seyns unzertrennlich verbunden ist.
Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin- den, von dem entgegengesetzten Standpunkt aus, von dem Begriff des Unrechts. Unrecht ist ihnen Störung der Frey- heit durch fremde Freyheit, die der menschlichen Entwick- lung hinderlich ist, und daher als ein Übel abgewehrt werden muß. Die Abwehr dieses Übels ist ihnen das Recht. Dasselbe soll hervorgebracht werden, nach Eini- gen, durch verständige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück seiner Freyheit aufgebe, um das Übrige sicher zu retten; oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanstalt,
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge- winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi- ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein- zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider- ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli- cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup- tet wird.
Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei- ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da- ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.
Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin- den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey- heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick- lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini- gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten; oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. I. Weſen und Arten.
ſamkeit jedes Einzelnen einen ſichern, freyen Raum ge-
winne. Die Regel, wodurch jene Gränze und durch ſie
dieſer freye Raum beſtimmt wird, iſt das Recht. Damit
iſt zugleich die Verwandtſchaft und die Verſchiedenheit zwi-
ſchen Recht und Sittlichkeit gegeben. Das Recht dient
der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht,
ſondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem ein-
zelnen Willen inwohnenden, Kraft ſichert. Sein Daſeyn
aber iſt ein ſelbſtſtändiges, und darum iſt es kein Wider-
ſpruch, wenn im einzelnen Fall die Möglichkeit unſittli-
cher Ausübung eines wirklich vorhandenen Rechts behaup-
tet wird.
Das Bedürfniß und das Daſeyn des Rechts iſt eine
Folge der Unvollkommenheit unſres Zuſtandes, aber nicht
einer zufälligen, hiſtoriſchen Unvollkommenheit, ſondern ei-
ner ſolchen, die mit der gegenwärtigen Stufe unſres Da-
ſeyns unzertrennlich verbunden iſt.
Viele aber gehen, um den Begriff des Rechts zu fin-
den, von dem entgegengeſetzten Standpunkt aus, von dem
Begriff des Unrechts. Unrecht iſt ihnen Störung der Frey-
heit durch fremde Freyheit, die der menſchlichen Entwick-
lung hinderlich iſt, und daher als ein Übel abgewehrt
werden muß. Die Abwehr dieſes Übels iſt ihnen das
Recht. Daſſelbe ſoll hervorgebracht werden, nach Eini-
gen, durch verſtändige Übereinkunft, indem Jeder ein Stück
ſeiner Freyheit aufgebe, um das Übrige ſicher zu retten;
oder, nach Anderen, durch eine äußere Zwangsanſtalt,
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/388>, abgerufen am 16.07.2024.
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