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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§ 51. Aussprüche der neueren Gesetzbücher.
die Gefahr willkührlicher Auslegungen geschützt durch den
über allen Gerichten stehenden Cassationshof, welcher sei-
nen belehrenden und zügelnden Einfluß auch da noch aus-
üben kann, wo die Regeln des Prozesses eine wirksame
Abänderung des einzelnen Urtheils nicht mehr gestatten.
Diese Lösung der Aufgabe würde völlig genügen, wenn
der Cassationshof das Recht hätte, anstatt eines cassirten
Urtheils ein eigenes Urtheil zu sprechen. Er darf aber
nur, nachdem er cassirt hat, die Entscheidung an ein an-
deres Gericht verweisen, so daß sich ein auf irrige Rechts-
sätze gebautes Urtheil und dessen Cassation in derselben
Rechtssache mehrmals wiederholen kann. Dieses umständ-
liche und kostspielige Verfahren ist dadurch entstanden, daß
in der alten Verfassung das Cassationsverfahren gar nicht
vor einem Gericht, sondern vor einer hohen Verwaltungs-
behörde (dem conseil du Roi) Statt fand, welche nur die
Gesetzverletzung verhüten, nicht selbst Recht sprechen sollte.
Dieser Grund ist seit der Revolution verschwunden, indem
nun ein besonderer Cassationshof besteht, der ein förmli-
ches Gericht bildet, und gleiche Unabhängigkeit mit allen
anderen Gerichten genießt. Man hat in neueren Zeiten
gesucht, dem erwähnten Übel abzuhelfen. Die ersten Ver-
suche dazu waren allerdings nicht genügend (a). Weit
wirksamer ist das neueste Gesetz, welches nach der zwey-
ten Cassation dasjenige Gericht, an welches nunmehr die
Sache verwiesen wird, geradezu verpflichtet, in seinem

(a) Loi du 16 Septembre 1807. -- Loi du 30 Juillet 1828.

§ 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher.
die Gefahr willkührlicher Auslegungen geſchützt durch den
über allen Gerichten ſtehenden Caſſationshof, welcher ſei-
nen belehrenden und zügelnden Einfluß auch da noch aus-
üben kann, wo die Regeln des Prozeſſes eine wirkſame
Abänderung des einzelnen Urtheils nicht mehr geſtatten.
Dieſe Löſung der Aufgabe würde völlig genügen, wenn
der Caſſationshof das Recht hätte, anſtatt eines caſſirten
Urtheils ein eigenes Urtheil zu ſprechen. Er darf aber
nur, nachdem er caſſirt hat, die Entſcheidung an ein an-
deres Gericht verweiſen, ſo daß ſich ein auf irrige Rechts-
ſätze gebautes Urtheil und deſſen Caſſation in derſelben
Rechtsſache mehrmals wiederholen kann. Dieſes umſtänd-
liche und koſtſpielige Verfahren iſt dadurch entſtanden, daß
in der alten Verfaſſung das Caſſationsverfahren gar nicht
vor einem Gericht, ſondern vor einer hohen Verwaltungs-
behörde (dem conseil du Roi) Statt fand, welche nur die
Geſetzverletzung verhüten, nicht ſelbſt Recht ſprechen ſollte.
Dieſer Grund iſt ſeit der Revolution verſchwunden, indem
nun ein beſonderer Caſſationshof beſteht, der ein förmli-
ches Gericht bildet, und gleiche Unabhängigkeit mit allen
anderen Gerichten genießt. Man hat in neueren Zeiten
geſucht, dem erwähnten Übel abzuhelfen. Die erſten Ver-
ſuche dazu waren allerdings nicht genügend (a). Weit
wirkſamer iſt das neueſte Geſetz, welches nach der zwey-
ten Caſſation dasjenige Gericht, an welches nunmehr die
Sache verwieſen wird, geradezu verpflichtet, in ſeinem

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[327/0383] § 51. Ausſprüche der neueren Geſetzbücher. die Gefahr willkührlicher Auslegungen geſchützt durch den über allen Gerichten ſtehenden Caſſationshof, welcher ſei- nen belehrenden und zügelnden Einfluß auch da noch aus- üben kann, wo die Regeln des Prozeſſes eine wirkſame Abänderung des einzelnen Urtheils nicht mehr geſtatten. Dieſe Löſung der Aufgabe würde völlig genügen, wenn der Caſſationshof das Recht hätte, anſtatt eines caſſirten Urtheils ein eigenes Urtheil zu ſprechen. Er darf aber nur, nachdem er caſſirt hat, die Entſcheidung an ein an- deres Gericht verweiſen, ſo daß ſich ein auf irrige Rechts- ſätze gebautes Urtheil und deſſen Caſſation in derſelben Rechtsſache mehrmals wiederholen kann. Dieſes umſtänd- liche und koſtſpielige Verfahren iſt dadurch entſtanden, daß in der alten Verfaſſung das Caſſationsverfahren gar nicht vor einem Gericht, ſondern vor einer hohen Verwaltungs- behörde (dem conseil du Roi) Statt fand, welche nur die Geſetzverletzung verhüten, nicht ſelbſt Recht ſprechen ſollte. Dieſer Grund iſt ſeit der Revolution verſchwunden, indem nun ein beſonderer Caſſationshof beſteht, der ein förmli- ches Gericht bildet, und gleiche Unabhängigkeit mit allen anderen Gerichten genießt. Man hat in neueren Zeiten geſucht, dem erwähnten Übel abzuhelfen. Die erſten Ver- ſuche dazu waren allerdings nicht genügend (a). Weit wirkſamer iſt das neueſte Geſetz, welches nach der zwey- ten Caſſation dasjenige Gericht, an welches nunmehr die Sache verwieſen wird, geradezu verpflichtet, in ſeinem (a) Loi du 16 Septembre 1807. — Loi du 30 Juillet 1828.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/383>, abgerufen am 24.11.2024.