§. 49. Praktischer Werth der Römischen Aussprüche.
sind beide in der That nicht verschieden. Jene lassen Ju- stinians Verbote als Gesetze gelten, beschränken sie aber auf den gar nicht existirenden Fall völlig sinnloser Ge- setze. Hier ist der Sinn der Verbote in seiner vollen Aus- dehnung anerkannt, zugleich aber ihre heutige Anwendbar- keit gänzlich geläugnet worden.
Alle diese Gründe betreffen nur Justinians Verbot der Auslegung; die in den Digesten enthaltenen Regeln könn- ten an sich auch für uns mit gesetzlicher Kraft bestehen. Doch halte ich es für consequenter, auch ihnen diese Kraft abzusprechen, und also die verschiedenen Bestimmungen des Justinianischen Rechts über die Auslegung als untrennbar stehen und fallen zu lassen. Jede Trennung dieser Art ist stets eine halbe Maaßregel: scheinbare Aufrechthaltung bey wesentlicher Umbildung; denn wer kann sagen, welche ganz andere Regeln Justinian gut gefunden hätte, wenn ihm überhaupt die Privatauslegung als zulässig erschienen wäre? Von praktischer Wichtigkeit ist diese Frage übri- gens nicht. Denn ganz neue Vorschriften über die Aus- legung, wodurch unsre allgemeinen Ansichten positiv um- gebildet würden, finden sich in den Digesten nicht; durch unsre Behauptung aber soll weder ihnen das Ansehen ei- ner Achtung gebietenden Autorität, noch uns die Beleh- rung, die wir aus ihnen schöpfen können, entzogen wer- den. Auch sind sie von mir auf solche Weise, neben der hier versuchten Theorie der Auslegung, schon bisher be- nutzt worden.
§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.
ſind beide in der That nicht verſchieden. Jene laſſen Ju- ſtinians Verbote als Geſetze gelten, beſchränken ſie aber auf den gar nicht exiſtirenden Fall völlig ſinnloſer Ge- ſetze. Hier iſt der Sinn der Verbote in ſeiner vollen Aus- dehnung anerkannt, zugleich aber ihre heutige Anwendbar- keit gänzlich geläugnet worden.
Alle dieſe Gründe betreffen nur Juſtinians Verbot der Auslegung; die in den Digeſten enthaltenen Regeln könn- ten an ſich auch für uns mit geſetzlicher Kraft beſtehen. Doch halte ich es für conſequenter, auch ihnen dieſe Kraft abzuſprechen, und alſo die verſchiedenen Beſtimmungen des Juſtinianiſchen Rechts über die Auslegung als untrennbar ſtehen und fallen zu laſſen. Jede Trennung dieſer Art iſt ſtets eine halbe Maaßregel: ſcheinbare Aufrechthaltung bey weſentlicher Umbildung; denn wer kann ſagen, welche ganz andere Regeln Juſtinian gut gefunden hätte, wenn ihm überhaupt die Privatauslegung als zuläſſig erſchienen wäre? Von praktiſcher Wichtigkeit iſt dieſe Frage übri- gens nicht. Denn ganz neue Vorſchriften über die Aus- legung, wodurch unſre allgemeinen Anſichten poſitiv um- gebildet würden, finden ſich in den Digeſten nicht; durch unſre Behauptung aber ſoll weder ihnen das Anſehen ei- ner Achtung gebietenden Autorität, noch uns die Beleh- rung, die wir aus ihnen ſchöpfen können, entzogen wer- den. Auch ſind ſie von mir auf ſolche Weiſe, neben der hier verſuchten Theorie der Auslegung, ſchon bisher be- nutzt worden.
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§. 49. Praktiſcher Werth der Römiſchen Ausſprüche.
ſind beide in der That nicht verſchieden. Jene laſſen Ju-
ſtinians Verbote als Geſetze gelten, beſchränken ſie aber
auf den gar nicht exiſtirenden Fall völlig ſinnloſer Ge-
ſetze. Hier iſt der Sinn der Verbote in ſeiner vollen Aus-
dehnung anerkannt, zugleich aber ihre heutige Anwendbar-
keit gänzlich geläugnet worden.
Alle dieſe Gründe betreffen nur Juſtinians Verbot der
Auslegung; die in den Digeſten enthaltenen Regeln könn-
ten an ſich auch für uns mit geſetzlicher Kraft beſtehen.
Doch halte ich es für conſequenter, auch ihnen dieſe Kraft
abzuſprechen, und alſo die verſchiedenen Beſtimmungen des
Juſtinianiſchen Rechts über die Auslegung als untrennbar
ſtehen und fallen zu laſſen. Jede Trennung dieſer Art
iſt ſtets eine halbe Maaßregel: ſcheinbare Aufrechthaltung
bey weſentlicher Umbildung; denn wer kann ſagen, welche
ganz andere Regeln Juſtinian gut gefunden hätte, wenn
ihm überhaupt die Privatauslegung als zuläſſig erſchienen
wäre? Von praktiſcher Wichtigkeit iſt dieſe Frage übri-
gens nicht. Denn ganz neue Vorſchriften über die Aus-
legung, wodurch unſre allgemeinen Anſichten poſitiv um-
gebildet würden, finden ſich in den Digeſten nicht; durch
unſre Behauptung aber ſoll weder ihnen das Anſehen ei-
ner Achtung gebietenden Autorität, noch uns die Beleh-
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/373>, abgerufen am 24.11.2024.
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