Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.§. 39. Justinianische Gesetze. Kritik. Fortsetzung. einander: ferner die Auslassung eines Buchstabs, wennderselbe Buchstab unmittelbar vorhergieng, wobey wir also den ausgefallenen wiederherstellen wollen (Gemina- tion): endlich das Überspringen oder Versetzen ganzer Zeilen in der dem Abschreiber vorliegenden Urhandschrift, welche Annahme freylich schon weit bedenklicher ist. -- Die wahr- scheinliche Erklärung der Entstehung des irrigen Textes kann zweytens geschehen dadurch, daß eine von mehreren Lese- arten schwerer als andere zu verstehen ist, so daß die Abschreiber den wahren Text verwarfen, blos weil sie ihn nicht verstanden. -- Sie kann endlich auch geschehen dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abschriften entstan- den, das Recht selbst sich verändert hatte, so daß das damals geltende Recht in die Abschriften hinein corrigirt wurde (f). -- Dagegen ist zu verwerfen diejenige Erklä- rung des Fehlers, welche auf der Voraussetzung von Siglen in den Urhandschriften beruht, die dann von den Abschreibern unrichtig aufgelöst seyn möchten. Denn da Justinian den Gebrauch der Siglen bey den Abschriften (f) Dahin gehört § 4 J. de
nupt. (1. 10): "Duorum autem fratrum vel sororum liberi, vel fratris et sororis, jungi non possunt." Viele Hand- schriften haben das non, viele andere haben es nicht. Die an sich unbedenkliche Verwerfung des non wird nun dadurch be- stärkt, daß zur Zeit der Entste- stehung unsrer Handschriften ge- wiß jeder Abschreiber wußte, daß die Ehe unter Geschwisterkindern (durch das canonische Recht) ver- boten sey. Solche Fälle sind nun freylich selten. Dagegen liegt es viel näher und scheint viel fruchtbarer, die vorjustinia- nische Rechtsgeschichte zur Emen- dation zu benutzen; aber gerade diese Benutzung ist meist ganz unzulässig, wie weiter unten ge- zeigt werden wird. §. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung. einander: ferner die Auslaſſung eines Buchſtabs, wennderſelbe Buchſtab unmittelbar vorhergieng, wobey wir alſo den ausgefallenen wiederherſtellen wollen (Gemina- tion): endlich das Überſpringen oder Verſetzen ganzer Zeilen in der dem Abſchreiber vorliegenden Urhandſchrift, welche Annahme freylich ſchon weit bedenklicher iſt. — Die wahr- ſcheinliche Erklärung der Entſtehung des irrigen Textes kann zweytens geſchehen dadurch, daß eine von mehreren Leſe- arten ſchwerer als andere zu verſtehen iſt, ſo daß die Abſchreiber den wahren Text verwarfen, blos weil ſie ihn nicht verſtanden. — Sie kann endlich auch geſchehen dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abſchriften entſtan- den, das Recht ſelbſt ſich verändert hatte, ſo daß das damals geltende Recht in die Abſchriften hinein corrigirt wurde (f). — Dagegen iſt zu verwerfen diejenige Erklä- rung des Fehlers, welche auf der Vorausſetzung von Siglen in den Urhandſchriften beruht, die dann von den Abſchreibern unrichtig aufgelöſt ſeyn möchten. Denn da Juſtinian den Gebrauch der Siglen bey den Abſchriften (f) Dahin gehört § 4 J. de
nupt. (1. 10): „Duorum autem fratrum vel sororum liberi, vel fratris et sororis, jungi non possunt.” Viele Hand- ſchriften haben das non, viele andere haben es nicht. Die an ſich unbedenkliche Verwerfung des non wird nun dadurch be- ſtärkt, daß zur Zeit der Entſte- ſtehung unſrer Handſchriften ge- wiß jeder Abſchreiber wußte, daß die Ehe unter Geſchwiſterkindern (durch das canoniſche Recht) ver- boten ſey. Solche Fälle ſind nun freylich ſelten. Dagegen liegt es viel näher und ſcheint viel fruchtbarer, die vorjuſtinia- niſche Rechtsgeſchichte zur Emen- dation zu benutzen; aber gerade dieſe Benutzung iſt meiſt ganz unzuläſſig, wie weiter unten ge- zeigt werden wird. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0307" n="251"/><fw place="top" type="header">§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.</fw><lb/> einander: ferner die Auslaſſung eines Buchſtabs, wenn<lb/> derſelbe Buchſtab unmittelbar vorhergieng, wobey wir<lb/> alſo den ausgefallenen wiederherſtellen wollen (Gemina-<lb/> tion): endlich das Überſpringen oder Verſetzen ganzer Zeilen<lb/> in der dem Abſchreiber vorliegenden Urhandſchrift, welche<lb/> Annahme freylich ſchon weit bedenklicher iſt. — Die wahr-<lb/> ſcheinliche Erklärung der Entſtehung des irrigen Textes kann<lb/> zweytens geſchehen dadurch, daß eine von mehreren Leſe-<lb/> arten ſchwerer als andere zu verſtehen iſt, ſo daß die<lb/> Abſchreiber den wahren Text verwarfen, blos weil ſie<lb/> ihn nicht verſtanden. — Sie kann endlich auch geſchehen<lb/> dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abſchriften entſtan-<lb/> den, das Recht ſelbſt ſich verändert hatte, ſo daß das<lb/> damals geltende Recht in die Abſchriften hinein corrigirt<lb/> wurde <note place="foot" n="(f)">Dahin gehört § 4 <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">J. de<lb/> nupt.</hi> (1. 10): „Duorum autem<lb/> fratrum vel sororum liberi,<lb/> vel fratris et sororis, jungi<lb/><hi rendition="#i">non</hi> possunt.”</hi> Viele Hand-<lb/> ſchriften haben das <hi rendition="#aq">non,</hi> viele<lb/> andere haben es nicht. Die an<lb/> ſich unbedenkliche Verwerfung<lb/> des <hi rendition="#aq">non</hi> wird nun dadurch be-<lb/> ſtärkt, daß zur Zeit der Entſte-<lb/> ſtehung unſrer Handſchriften ge-<lb/> wiß jeder Abſchreiber wußte, daß<lb/> die Ehe unter Geſchwiſterkindern<lb/> (durch das canoniſche Recht) ver-<lb/> boten ſey. Solche Fälle ſind<lb/> nun freylich ſelten. Dagegen<lb/> liegt es viel näher und ſcheint<lb/> viel fruchtbarer, die vorjuſtinia-<lb/> niſche Rechtsgeſchichte zur Emen-<lb/> dation zu benutzen; aber gerade<lb/> dieſe Benutzung iſt meiſt ganz<lb/> unzuläſſig, wie weiter unten ge-<lb/> zeigt werden wird.</note>. — Dagegen iſt zu verwerfen diejenige Erklä-<lb/> rung des Fehlers, welche auf der Vorausſetzung von<lb/> Siglen in den Urhandſchriften beruht, die dann von den<lb/> Abſchreibern unrichtig aufgelöſt ſeyn möchten. Denn da<lb/> Juſtinian den Gebrauch der Siglen bey den Abſchriften<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [251/0307]
§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.
einander: ferner die Auslaſſung eines Buchſtabs, wenn
derſelbe Buchſtab unmittelbar vorhergieng, wobey wir
alſo den ausgefallenen wiederherſtellen wollen (Gemina-
tion): endlich das Überſpringen oder Verſetzen ganzer Zeilen
in der dem Abſchreiber vorliegenden Urhandſchrift, welche
Annahme freylich ſchon weit bedenklicher iſt. — Die wahr-
ſcheinliche Erklärung der Entſtehung des irrigen Textes kann
zweytens geſchehen dadurch, daß eine von mehreren Leſe-
arten ſchwerer als andere zu verſtehen iſt, ſo daß die
Abſchreiber den wahren Text verwarfen, blos weil ſie
ihn nicht verſtanden. — Sie kann endlich auch geſchehen
dadurch, daß zu der Zeit, worin die Abſchriften entſtan-
den, das Recht ſelbſt ſich verändert hatte, ſo daß das
damals geltende Recht in die Abſchriften hinein corrigirt
wurde (f). — Dagegen iſt zu verwerfen diejenige Erklä-
rung des Fehlers, welche auf der Vorausſetzung von
Siglen in den Urhandſchriften beruht, die dann von den
Abſchreibern unrichtig aufgelöſt ſeyn möchten. Denn da
Juſtinian den Gebrauch der Siglen bey den Abſchriften
(f) Dahin gehört § 4 J. de
nupt. (1. 10): „Duorum autem
fratrum vel sororum liberi,
vel fratris et sororis, jungi
non possunt.” Viele Hand-
ſchriften haben das non, viele
andere haben es nicht. Die an
ſich unbedenkliche Verwerfung
des non wird nun dadurch be-
ſtärkt, daß zur Zeit der Entſte-
ſtehung unſrer Handſchriften ge-
wiß jeder Abſchreiber wußte, daß
die Ehe unter Geſchwiſterkindern
(durch das canoniſche Recht) ver-
boten ſey. Solche Fälle ſind
nun freylich ſelten. Dagegen
liegt es viel näher und ſcheint
viel fruchtbarer, die vorjuſtinia-
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