Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.§. 39. Justinianische Gesetze. Kritik. Fortsetzung. muß sie diejenige Wahrscheinlichkeit mit in Anschlag brin-gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handschriften für eine unter mehreren Lesearten hervorgehen kann. Aber frey bleibt sie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch die Rücksicht auf irgend eine Klasse von Handschriften (z. B. die Vulgata) gebunden zu seyn: ja diese Freyheit ist sogar in sehr wichtigen Anwendungen stets allgemein anerkannt worden, selbst von Solchen, die sich in der allgemeinen Theorie entschieden gegen den Gebrauch der Kritik aussprachen. Es giebt nämlich in den Digesten eine ansehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini- sche Text durch Lücken sinnlos ist, andere Handschriften aber einen vollständigen Text von unzweifelhafter Ächt- heit darbieten: eben so giebt es viele Stellen, worin der umgekehrte Fall eintritt (b). Nun weiß ich auch keinen einzigen Schriftsteller, der in seinem kritischen Rigorismus so weit gienge, diese zwiefachen Verbesserungen abzuwei- sen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo- lognesischen Text die ausschließende Herrschaft zuschreiben möchte, unter allen oben dargestellten willkührlichen Be- schränkungen noch am meisten historischen Schein für sich. (b) Savigny Geschichte des
R. R. im Mittelalter B. 3 § 167. 171. Allerdings könnte man sa- gen, die hier angeführten Er- gänzungen aus der Florentina seyen ja schon selbst Bestandtheile der Vulgata geworden. Allein die Bologneser haben uns nicht wenige ganz ähnliche Verbesse- rungen zu machen übrig gelassen, die erst in späterer Zeit aus der Florentina hinzugefügt worden sind, und woran dennoch nie- mals Anstoß genommen wor- den ist. §. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung. muß ſie diejenige Wahrſcheinlichkeit mit in Anſchlag brin-gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handſchriften für eine unter mehreren Leſearten hervorgehen kann. Aber frey bleibt ſie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch die Rückſicht auf irgend eine Klaſſe von Handſchriften (z. B. die Vulgata) gebunden zu ſeyn: ja dieſe Freyheit iſt ſogar in ſehr wichtigen Anwendungen ſtets allgemein anerkannt worden, ſelbſt von Solchen, die ſich in der allgemeinen Theorie entſchieden gegen den Gebrauch der Kritik ausſprachen. Es giebt nämlich in den Digeſten eine anſehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini- ſche Text durch Lücken ſinnlos iſt, andere Handſchriften aber einen vollſtändigen Text von unzweifelhafter Ächt- heit darbieten: eben ſo giebt es viele Stellen, worin der umgekehrte Fall eintritt (b). Nun weiß ich auch keinen einzigen Schriftſteller, der in ſeinem kritiſchen Rigorismus ſo weit gienge, dieſe zwiefachen Verbeſſerungen abzuwei- ſen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo- logneſiſchen Text die ausſchließende Herrſchaft zuſchreiben möchte, unter allen oben dargeſtellten willkührlichen Be- ſchränkungen noch am meiſten hiſtoriſchen Schein für ſich. (b) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 3 § 167. 171. Allerdings könnte man ſa- gen, die hier angeführten Er- gänzungen aus der Florentina ſeyen ja ſchon ſelbſt Beſtandtheile der Vulgata geworden. Allein die Bologneſer haben uns nicht wenige ganz ähnliche Verbeſſe- rungen zu machen übrig gelaſſen, die erſt in ſpäterer Zeit aus der Florentina hinzugefügt worden ſind, und woran dennoch nie- mals Anſtoß genommen wor- den iſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0303" n="247"/><fw place="top" type="header">§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.</fw><lb/> muß ſie diejenige Wahrſcheinlichkeit mit in Anſchlag brin-<lb/> gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handſchriften<lb/> für eine unter mehreren Leſearten hervorgehen kann. Aber<lb/> frey bleibt ſie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch<lb/> die Rückſicht auf irgend eine Klaſſe von Handſchriften<lb/> (z. B. die Vulgata) gebunden zu ſeyn: ja dieſe Freyheit<lb/> iſt ſogar in ſehr wichtigen Anwendungen ſtets allgemein<lb/> anerkannt worden, ſelbſt von Solchen, die ſich in der<lb/> allgemeinen Theorie entſchieden gegen den Gebrauch der<lb/> Kritik ausſprachen. Es giebt nämlich in den Digeſten<lb/> eine anſehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini-<lb/> ſche Text durch Lücken ſinnlos iſt, andere Handſchriften<lb/> aber einen vollſtändigen Text von unzweifelhafter Ächt-<lb/> heit darbieten: eben ſo giebt es viele Stellen, worin der<lb/> umgekehrte Fall eintritt <note place="foot" n="(b)"><hi rendition="#g">Savigny</hi> Geſchichte des<lb/> R. R. im Mittelalter B. 3 § 167.<lb/> 171. Allerdings könnte man ſa-<lb/> gen, die hier angeführten Er-<lb/> gänzungen aus der Florentina<lb/> ſeyen ja ſchon ſelbſt Beſtandtheile<lb/> der Vulgata geworden. Allein<lb/> die Bologneſer haben uns nicht<lb/> wenige ganz ähnliche Verbeſſe-<lb/> rungen zu machen übrig gelaſſen,<lb/> die erſt in ſpäterer Zeit aus der<lb/> Florentina hinzugefügt worden<lb/> ſind, und woran dennoch nie-<lb/> mals Anſtoß genommen wor-<lb/> den iſt.</note>. Nun weiß ich auch keinen<lb/> einzigen Schriftſteller, der in ſeinem kritiſchen Rigorismus<lb/> ſo weit gienge, dieſe zwiefachen Verbeſſerungen abzuwei-<lb/> ſen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo-<lb/> logneſiſchen Text die ausſchließende Herrſchaft zuſchreiben<lb/> möchte, unter allen oben dargeſtellten willkührlichen Be-<lb/> ſchränkungen noch am meiſten hiſtoriſchen Schein für ſich.<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [247/0303]
§. 39. Juſtinianiſche Geſetze. Kritik. Fortſetzung.
muß ſie diejenige Wahrſcheinlichkeit mit in Anſchlag brin-
gen, die aus der Zahl und dem Werth der Handſchriften
für eine unter mehreren Leſearten hervorgehen kann. Aber
frey bleibt ſie darum dennoch in der Auswahl, ohne durch
die Rückſicht auf irgend eine Klaſſe von Handſchriften
(z. B. die Vulgata) gebunden zu ſeyn: ja dieſe Freyheit
iſt ſogar in ſehr wichtigen Anwendungen ſtets allgemein
anerkannt worden, ſelbſt von Solchen, die ſich in der
allgemeinen Theorie entſchieden gegen den Gebrauch der
Kritik ausſprachen. Es giebt nämlich in den Digeſten
eine anſehnliche Zahl von Stellen, worin der Florentini-
ſche Text durch Lücken ſinnlos iſt, andere Handſchriften
aber einen vollſtändigen Text von unzweifelhafter Ächt-
heit darbieten: eben ſo giebt es viele Stellen, worin der
umgekehrte Fall eintritt (b). Nun weiß ich auch keinen
einzigen Schriftſteller, der in ſeinem kritiſchen Rigorismus
ſo weit gienge, dieſe zwiefachen Verbeſſerungen abzuwei-
ſen: und doch hat die Meynung, welche etwa dem Bo-
logneſiſchen Text die ausſchließende Herrſchaft zuſchreiben
möchte, unter allen oben dargeſtellten willkührlichen Be-
ſchränkungen noch am meiſten hiſtoriſchen Schein für ſich.
(b) Savigny Geſchichte des
R. R. im Mittelalter B. 3 § 167.
171. Allerdings könnte man ſa-
gen, die hier angeführten Er-
gänzungen aus der Florentina
ſeyen ja ſchon ſelbſt Beſtandtheile
der Vulgata geworden. Allein
die Bologneſer haben uns nicht
wenige ganz ähnliche Verbeſſe-
rungen zu machen übrig gelaſſen,
die erſt in ſpäterer Zeit aus der
Florentina hinzugefügt worden
ſind, und woran dennoch nie-
mals Anſtoß genommen wor-
den iſt.
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