§. 30. Ansichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortsetzung.
könne. -- Allerdings haben Manche diese Ansicht in der Anwendung gemildert, und dadurch das Bedenkliche der- selben vermindert; sie muß aber vielmehr von Grund aus verworfen werden (e).
Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage, eine allgemeine und eine besondere: jene ist die Rechtsre- gel, diese besteht in den Thatsachen, wodurch die Anwen- dung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird (§ 5). Die Rechtsregel kann und soll der Richter kennen (jus novit curia), von den Thatsachen kann und darf er Nichts wissen, so lange nicht eine Partey sie ihm ange- führt und zur Überzeugung gebracht hat. Dieser Gegen- satz bleibt derselbe, die Rechtsregel mag nun aus Gesetzen, aus dem Gewohnheitsrecht, oder der Wissenschaft hervor- gegangen seyn. Jene Lehre also beruht auf einer Ver- wechslung beider Grundlagen des Rechtsverhältnisses, indem sie auf die Erkenntniß der Rechtsregel Dasjenige überträgt, was nur von der Erkenntniß der besonderen Thatsachen des einzelnen Falles wahr ist; denn von die- sen allein gilt die bemerkte Nothwendigkeit des Beweises nach bestimmten Prozeßregeln, und eben um diese wich- tige Eigenthümlichkeit derselben zu bezeichnen, nennen wir sie allein Thatsachen, wenn wir diesen Ausdruck im technischen Sinn gebrauchen. Dadurch erhält dieser Aus- druck, wie es bey jeder technischen Beschränkung geschieht,
(e)PuchtaI. S. 105. II. S. 151 fg. Vgl. auch Lange Begrün- dungslehre des Rechts, Erlangen 1821. § 16.
§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
könne. — Allerdings haben Manche dieſe Anſicht in der Anwendung gemildert, und dadurch das Bedenkliche der- ſelben vermindert; ſie muß aber vielmehr von Grund aus verworfen werden (e).
Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage, eine allgemeine und eine beſondere: jene iſt die Rechtsre- gel, dieſe beſteht in den Thatſachen, wodurch die Anwen- dung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird (§ 5). Die Rechtsregel kann und ſoll der Richter kennen (jus novit curia), von den Thatſachen kann und darf er Nichts wiſſen, ſo lange nicht eine Partey ſie ihm ange- führt und zur Überzeugung gebracht hat. Dieſer Gegen- ſatz bleibt derſelbe, die Rechtsregel mag nun aus Geſetzen, aus dem Gewohnheitsrecht, oder der Wiſſenſchaft hervor- gegangen ſeyn. Jene Lehre alſo beruht auf einer Ver- wechslung beider Grundlagen des Rechtsverhältniſſes, indem ſie auf die Erkenntniß der Rechtsregel Dasjenige überträgt, was nur von der Erkenntniß der beſonderen Thatſachen des einzelnen Falles wahr iſt; denn von die- ſen allein gilt die bemerkte Nothwendigkeit des Beweiſes nach beſtimmten Prozeßregeln, und eben um dieſe wich- tige Eigenthümlichkeit derſelben zu bezeichnen, nennen wir ſie allein Thatſachen, wenn wir dieſen Ausdruck im techniſchen Sinn gebrauchen. Dadurch erhält dieſer Aus- druck, wie es bey jeder techniſchen Beſchränkung geſchieht,
(e)PuchtaI. S. 105. II. S. 151 fg. Vgl. auch Lange Begrün- dungslehre des Rechts, Erlangen 1821. § 16.
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§. 30. Anſichten der Neueren von den Rechtsquellen. Fortſetzung.
könne. — Allerdings haben Manche dieſe Anſicht in der
Anwendung gemildert, und dadurch das Bedenkliche der-
ſelben vermindert; ſie muß aber vielmehr von Grund aus
verworfen werden (e).
Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage,
eine allgemeine und eine beſondere: jene iſt die Rechtsre-
gel, dieſe beſteht in den Thatſachen, wodurch die Anwen-
dung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird
(§ 5). Die Rechtsregel kann und ſoll der Richter kennen
(jus novit curia), von den Thatſachen kann und darf er
Nichts wiſſen, ſo lange nicht eine Partey ſie ihm ange-
führt und zur Überzeugung gebracht hat. Dieſer Gegen-
ſatz bleibt derſelbe, die Rechtsregel mag nun aus Geſetzen,
aus dem Gewohnheitsrecht, oder der Wiſſenſchaft hervor-
gegangen ſeyn. Jene Lehre alſo beruht auf einer Ver-
wechslung beider Grundlagen des Rechtsverhältniſſes,
indem ſie auf die Erkenntniß der Rechtsregel Dasjenige
überträgt, was nur von der Erkenntniß der beſonderen
Thatſachen des einzelnen Falles wahr iſt; denn von die-
ſen allein gilt die bemerkte Nothwendigkeit des Beweiſes
nach beſtimmten Prozeßregeln, und eben um dieſe wich-
tige Eigenthümlichkeit derſelben zu bezeichnen, nennen wir
ſie allein Thatſachen, wenn wir dieſen Ausdruck im
techniſchen Sinn gebrauchen. Dadurch erhält dieſer Aus-
druck, wie es bey jeder techniſchen Beſchränkung geſchieht,
(e) Puchta I. S. 105. II. S.
151 fg. Vgl. auch Lange Begrün-
dungslehre des Rechts, Erlangen
1821. § 16.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/243>, abgerufen am 18.12.2024.
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