Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
fassung feyerlicher Rechtsgeschäfte. Daneben finden sich dann als erste literarische Versuche gewöhnlich Formu- lare, mechanische Anweisungen zur genauen Besorgung von Rechtsgeschäften. Nach und nach wird die Thätig- keit geistiger und bildet sich zur Wissenschaft aus. Nun erscheinen als theoretische Formen Darstellungen des Rechts theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher Lehre: als praktische Formen aber die Urtheilssprüche der Gerichte, die sich von den alten Volksgerichten theils durch die wissenschaftliche Bildung der Mitglieder, theils durch die Tradition bleibender Collegien unterscheiden.
Man kann hiernach bey dem Juristenstand eine zwie- fache Wirksamkeit unterscheiden: eine materielle, indem sich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräsentan- ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for- melle, rein wissenschaftliche, indem von ihm das Recht überhaupt, wie es auch entstanden seyn möge, in wissen- schaftlicher Weise zum Bewußtseyn gebracht und darge- stellt wird. In dieser letzten Function erscheint die Wirk- samkeit der Juristen zunächst als eine abhängige, ihren Stoff von außen empfangende. Indessen entsteht durch die dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form, welche seine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden strebt, ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurück wirkt, so daß auch aus der Wis- senschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
faſſung feyerlicher Rechtsgeſchäfte. Daneben finden ſich dann als erſte literariſche Verſuche gewöhnlich Formu- lare, mechaniſche Anweiſungen zur genauen Beſorgung von Rechtsgeſchäften. Nach und nach wird die Thätig- keit geiſtiger und bildet ſich zur Wiſſenſchaft aus. Nun erſcheinen als theoretiſche Formen Darſtellungen des Rechts theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher Lehre: als praktiſche Formen aber die Urtheilsſprüche der Gerichte, die ſich von den alten Volksgerichten theils durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglieder, theils durch die Tradition bleibender Collegien unterſcheiden.
Man kann hiernach bey dem Juriſtenſtand eine zwie- fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem ſich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräſentan- ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for- melle, rein wiſſenſchaftliche, indem von ihm das Recht überhaupt, wie es auch entſtanden ſeyn möge, in wiſſen- ſchaftlicher Weiſe zum Bewußtſeyn gebracht und darge- ſtellt wird. In dieſer letzten Function erſcheint die Wirk- ſamkeit der Juriſten zunächſt als eine abhängige, ihren Stoff von außen empfangende. Indeſſen entſteht durch die dem Stoff gegebene wiſſenſchaftliche Form, welche ſeine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden ſtrebt, ein neues organiſches Leben, welches bildend auf den Stoff ſelbſt zurück wirkt, ſo daß auch aus der Wiſ- ſenſchaft als ſolcher eine neue Art der Rechtserzeugung
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0102"n="46"/><fwplace="top"type="header">Buch <hirendition="#aq">I.</hi> Quellen. Kap. <hirendition="#aq">II.</hi> Allg. Natur der Quellen.</fw><lb/>
faſſung feyerlicher Rechtsgeſchäfte. Daneben finden ſich<lb/>
dann als erſte literariſche Verſuche gewöhnlich Formu-<lb/>
lare, mechaniſche Anweiſungen zur genauen Beſorgung<lb/>
von Rechtsgeſchäften. Nach und nach wird die Thätig-<lb/>
keit geiſtiger und bildet ſich zur Wiſſenſchaft aus. Nun<lb/>
erſcheinen als theoretiſche Formen Darſtellungen des Rechts<lb/>
theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher<lb/>
Lehre: als praktiſche Formen aber die Urtheilsſprüche der<lb/>
Gerichte, die ſich von den alten Volksgerichten theils<lb/>
durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglieder, theils<lb/>
durch die Tradition bleibender Collegien unterſcheiden.</p><lb/><p>Man kann hiernach bey dem Juriſtenſtand eine zwie-<lb/>
fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem<lb/>ſich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils<lb/>
in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräſentan-<lb/>
ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for-<lb/>
melle, rein wiſſenſchaftliche, indem von ihm das Recht<lb/>
überhaupt, wie es auch entſtanden ſeyn möge, in wiſſen-<lb/>ſchaftlicher Weiſe zum Bewußtſeyn gebracht und darge-<lb/>ſtellt wird. In dieſer letzten Function erſcheint die Wirk-<lb/>ſamkeit der Juriſten zunächſt als eine abhängige, ihren<lb/>
Stoff von außen empfangende. Indeſſen entſteht durch<lb/>
die dem Stoff gegebene wiſſenſchaftliche Form, welche<lb/>ſeine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden<lb/>ſtrebt, ein neues organiſches Leben, welches bildend auf<lb/>
den Stoff ſelbſt zurück wirkt, ſo daß auch aus der Wiſ-<lb/>ſenſchaft als ſolcher eine neue Art der Rechtserzeugung<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[46/0102]
Buch I. Quellen. Kap. II. Allg. Natur der Quellen.
faſſung feyerlicher Rechtsgeſchäfte. Daneben finden ſich
dann als erſte literariſche Verſuche gewöhnlich Formu-
lare, mechaniſche Anweiſungen zur genauen Beſorgung
von Rechtsgeſchäften. Nach und nach wird die Thätig-
keit geiſtiger und bildet ſich zur Wiſſenſchaft aus. Nun
erſcheinen als theoretiſche Formen Darſtellungen des Rechts
theils in mannichfaltigen Büchern, theils in mündlicher
Lehre: als praktiſche Formen aber die Urtheilsſprüche der
Gerichte, die ſich von den alten Volksgerichten theils
durch die wiſſenſchaftliche Bildung der Mitglieder, theils
durch die Tradition bleibender Collegien unterſcheiden.
Man kann hiernach bey dem Juriſtenſtand eine zwie-
fache Wirkſamkeit unterſcheiden: eine materielle, indem
ſich die rechtserzeugende Thätigkeit des Volks großentheils
in ihn zurückzieht, und von ihm, als dem Repräſentan-
ten des Ganzen, fortwährend geübt wird: und eine for-
melle, rein wiſſenſchaftliche, indem von ihm das Recht
überhaupt, wie es auch entſtanden ſeyn möge, in wiſſen-
ſchaftlicher Weiſe zum Bewußtſeyn gebracht und darge-
ſtellt wird. In dieſer letzten Function erſcheint die Wirk-
ſamkeit der Juriſten zunächſt als eine abhängige, ihren
Stoff von außen empfangende. Indeſſen entſteht durch
die dem Stoff gegebene wiſſenſchaftliche Form, welche
ſeine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden
ſtrebt, ein neues organiſches Leben, welches bildend auf
den Stoff ſelbſt zurück wirkt, ſo daß auch aus der Wiſ-
ſenſchaft als ſolcher eine neue Art der Rechtserzeugung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/102>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.