wahr, so wird jeder wohlgesinnte Deutsche wünschen, daß Deutschland in allen seinen Theilen gleiches Recht genießen möge. Aber eben diese Voraussetzung ist nun der Gegenstand unsrer Prüfung.
In jedem organischen Wesen, also auch im Staate, beruht die Gesundheit darauf, daß beides, das Ganze und jeder Theil, im Gleichgewicht stehe, daß jedem sein Recht widerfahre. Daß ein Bürger, eine Stadt, eine Provinz den Staat vergessen, dem sie angehören, ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung, und jeder wird diesen Zustand für unnatürlich und krankhaft erkennen. Aber eben so kann die leben- dige Liebe zum Ganzen blos aus der lebendigen Theilnahme an allen einzelnen Verhältnissen hervor- gehen, und nur wer seinem Hause tüchtig vorsteht, wird ein trefflicher Bürger seyn. Darum ist es ein Irrthum, zu glauben, das Allgemeine werde an Le- ben gewinnen durch die Vernichtung aller individuel- len Verhältnisse. Könnte in jedem Stande, in jeder Stadt, ja in jedem Dorfe ein eigenthümliches Selbst- gefühl erzeugt werden, so würde aus diesem erhöh- ten und vervielfältigten individuellen Leben auch das Ganze neue Kraft gewinnen. Darum, wenn von dem Einfluß des bürgerlichen Rechts auf das Vater- landsgefühl die Rede ist, so darf nicht geradezu das besondere Recht einzelner Provinzen und Städte für nachtheilig gehalten werden. Lob in dieser Beziehung
wahr, ſo wird jeder wohlgeſinnte Deutſche wünſchen, daß Deutſchland in allen ſeinen Theilen gleiches Recht genießen möge. Aber eben dieſe Vorausſetzung iſt nun der Gegenſtand unſrer Prüfung.
In jedem organiſchen Weſen, alſo auch im Staate, beruht die Geſundheit darauf, daß beides, das Ganze und jeder Theil, im Gleichgewicht ſtehe, daß jedem ſein Recht widerfahre. Daß ein Bürger, eine Stadt, eine Provinz den Staat vergeſſen, dem ſie angehören, iſt eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung, und jeder wird dieſen Zuſtand für unnatürlich und krankhaft erkennen. Aber eben ſo kann die leben- dige Liebe zum Ganzen blos aus der lebendigen Theilnahme an allen einzelnen Verhältniſſen hervor- gehen, und nur wer ſeinem Hauſe tüchtig vorſteht, wird ein trefflicher Bürger ſeyn. Darum iſt es ein Irrthum, zu glauben, das Allgemeine werde an Le- ben gewinnen durch die Vernichtung aller individuel- len Verhältniſſe. Könnte in jedem Stande, in jeder Stadt, ja in jedem Dorfe ein eigenthümliches Selbſt- gefühl erzeugt werden, ſo würde aus dieſem erhöh- ten und vervielfältigten individuellen Leben auch das Ganze neue Kraft gewinnen. Darum, wenn von dem Einfluß des bürgerlichen Rechts auf das Vater- landsgefühl die Rede iſt, ſo darf nicht geradezu das beſondere Recht einzelner Provinzen und Städte für nachtheilig gehalten werden. Lob in dieſer Beziehung
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wahr, ſo wird jeder wohlgeſinnte Deutſche wünſchen,
daß Deutſchland in allen ſeinen Theilen gleiches Recht
genießen möge. Aber eben dieſe Vorausſetzung iſt
nun der Gegenſtand unſrer Prüfung.
In jedem organiſchen Weſen, alſo auch im
Staate, beruht die Geſundheit darauf, daß beides,
das Ganze und jeder Theil, im Gleichgewicht ſtehe,
daß jedem ſein Recht widerfahre. Daß ein Bürger,
eine Stadt, eine Provinz den Staat vergeſſen, dem
ſie angehören, iſt eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung,
und jeder wird dieſen Zuſtand für unnatürlich und
krankhaft erkennen. Aber eben ſo kann die leben-
dige Liebe zum Ganzen blos aus der lebendigen
Theilnahme an allen einzelnen Verhältniſſen hervor-
gehen, und nur wer ſeinem Hauſe tüchtig vorſteht,
wird ein trefflicher Bürger ſeyn. Darum iſt es ein
Irrthum, zu glauben, das Allgemeine werde an Le-
ben gewinnen durch die Vernichtung aller individuel-
len Verhältniſſe. Könnte in jedem Stande, in jeder
Stadt, ja in jedem Dorfe ein eigenthümliches Selbſt-
gefühl erzeugt werden, ſo würde aus dieſem erhöh-
ten und vervielfältigten individuellen Leben auch das
Ganze neue Kraft gewinnen. Darum, wenn von
dem Einfluß des bürgerlichen Rechts auf das Vater-
landsgefühl die Rede iſt, ſo darf nicht geradezu das
beſondere Recht einzelner Provinzen und Städte für
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Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/52>, abgerufen am 16.07.2024.
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