ein viel wichtigeres, mehr unwillkührliches Mittel zu Gebot, eine treffliche Kunstsprache, die mit der Wis- senschaft so zusammenfällt, daß beide ein unauflösli- ches Ganze zu bilden scheinen. Mit diesen Vorzügen aber könnte sich eine schneidende Einseitigkeit sehr wohl vertragen. Das Recht nämlich hat kein Da- seyn für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer besondern Seite angese- hen. Wenn sich nun die Wissenschaft des Rechts von diesem ihrem Objecte ablöst, so wird die wissen- schaftliche Thätigkeit ihren einseitigen Weg fortgehen können, ohne von einer entsprechenden Anschauung der Rechtsverhältnisse selbst begleitet zu seyn; die Wissenschaft wird alsdann einen hohen Grad for- meller Ausbildung erlangen können, und doch alle eigentliche Realität entbehren. Aber gerade von die- ser Seite erscheint die Methode der Römischen Juri- sten am vortrefflichsten. Haben sie einen Rechtsfall zu beurtheilen, so gehen sie von der lebendigsten An- schauung desselben aus, und wir sehen vor unsern Augen das ganze Verhältniß Schritt vor Schritt entstehen und sich verändern. Es ist nun, als ob dieser Fall der Anfangspunkt der ganzen Wissenschaft wäre, welche von hier aus erfunden werden sollte. So ist ihnen Theorie und Praxis eigentlich gar nicht verschieden, ihre Theorie ist bis zur unmittelbarsten Anwendung durchgebildet, und ihre Praxis wird stets durch wissenschaftliche Behandlung geadelt. In je-
ein viel wichtigeres, mehr unwillkührliches Mittel zu Gebot, eine treffliche Kunſtſprache, die mit der Wiſ- ſenſchaft ſo zuſammenfällt, daß beide ein unauflösli- ches Ganze zu bilden ſcheinen. Mit dieſen Vorzügen aber könnte ſich eine ſchneidende Einſeitigkeit ſehr wohl vertragen. Das Recht nämlich hat kein Da- ſeyn für ſich, ſein Weſen vielmehr iſt das Leben der Menſchen ſelbſt, von einer beſondern Seite angeſe- hen. Wenn ſich nun die Wiſſenſchaft des Rechts von dieſem ihrem Objecte ablöſt, ſo wird die wiſſen- ſchaftliche Thätigkeit ihren einſeitigen Weg fortgehen können, ohne von einer entſprechenden Anſchauung der Rechtsverhältniſſe ſelbſt begleitet zu ſeyn; die Wiſſenſchaft wird alsdann einen hohen Grad for- meller Ausbildung erlangen können, und doch alle eigentliche Realität entbehren. Aber gerade von die- ſer Seite erſcheint die Methode der Römiſchen Juri- ſten am vortrefflichſten. Haben ſie einen Rechtsfall zu beurtheilen, ſo gehen ſie von der lebendigſten An- ſchauung deſſelben aus, und wir ſehen vor unſern Augen das ganze Verhältniß Schritt vor Schritt entſtehen und ſich verändern. Es iſt nun, als ob dieſer Fall der Anfangspunkt der ganzen Wiſſenſchaft wäre, welche von hier aus erfunden werden ſollte. So iſt ihnen Theorie und Praxis eigentlich gar nicht verſchieden, ihre Theorie iſt bis zur unmittelbarſten Anwendung durchgebildet, und ihre Praxis wird ſtets durch wiſſenſchaftliche Behandlung geadelt. In je-
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ein viel wichtigeres, mehr unwillkührliches Mittel zu
Gebot, eine treffliche Kunſtſprache, die mit der Wiſ-
ſenſchaft ſo zuſammenfällt, daß beide ein unauflösli-
ches Ganze zu bilden ſcheinen. Mit dieſen Vorzügen
aber könnte ſich eine ſchneidende Einſeitigkeit ſehr
wohl vertragen. Das Recht nämlich hat kein Da-
ſeyn für ſich, ſein Weſen vielmehr iſt das Leben der
Menſchen ſelbſt, von einer beſondern Seite angeſe-
hen. Wenn ſich nun die Wiſſenſchaft des Rechts
von dieſem ihrem Objecte ablöſt, ſo wird die wiſſen-
ſchaftliche Thätigkeit ihren einſeitigen Weg fortgehen
können, ohne von einer entſprechenden Anſchauung
der Rechtsverhältniſſe ſelbſt begleitet zu ſeyn; die
Wiſſenſchaft wird alsdann einen hohen Grad for-
meller Ausbildung erlangen können, und doch alle
eigentliche Realität entbehren. Aber gerade von die-
ſer Seite erſcheint die Methode der Römiſchen Juri-
ſten am vortrefflichſten. Haben ſie einen Rechtsfall
zu beurtheilen, ſo gehen ſie von der lebendigſten An-
ſchauung deſſelben aus, und wir ſehen vor unſern
Augen das ganze Verhältniß Schritt vor Schritt
entſtehen und ſich verändern. Es iſt nun, als ob
dieſer Fall der Anfangspunkt der ganzen Wiſſenſchaft
wäre, welche von hier aus erfunden werden ſollte.
So iſt ihnen Theorie und Praxis eigentlich gar nicht
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Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/40>, abgerufen am 16.07.2024.
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